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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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so löscht man nach der Vorschrift die Glut. Alle standen auf und gingen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Auch ich folgte der Sitte und sah noch aus dem Augenwinkel, wie draußen auf dem Fluss die Kameras gezückt und die Teleobjektive aufgeschraubt wurden, wie sich oben auf dem Tempeldach ein Westler mit Videokamera postiert hatte – offenbar weckte die überall in Varanasi geäußerte Bitte, die Menschen und ihre Angehörigen auf diesem Weg unbeobachtet zu lassen, den besonderen Ehrgeiz mancher Menschen. Und wo ein Markt ist in Indien, gibt es auch Verkäufer; mein Freund sagte mir, er habe von deutschen Reisegruppen gehört, die in einer Seitengasse ganz nahe an das Manikarnika Ghat herangeführt würden, angetrieben von einem einheimischen Reiseleiter mit rudimentären Deutschkenntnissen, der sie auf einen Balkon mit Einblick auf das Geschehen führte: »Komm, Touropa, Leiche brennt schon!«
    Mein Freund erzählte mir auf dem Heimweg auch, dass die professionellen Einäscherer nach unserem Abschied die Überreste dem Fluss übergeben haben, so wie sie das immer tun. Vorher dürfen sie Kohle und Asche nach Wertsachen durchsuchen – manche Angehörige verzichten darauf, den Toten Ringe und anderen Schmuck abzustreifen. Neben der Steuer, die ihnen für jeden Leichnam zusteht, ein weiterer lukrativer Aspekt ihrer Arbeit: Die Doms haben einen guten Job. Sie gehören inzwischen zumindest ökonomisch zur neuen indischen Mittelklasse. So schließt sich ein Kreislauf mit einer nicht unlogischen Wendung: Der Tod hat in Varanasi nicht nur jeden Schrecken verloren: Der Tod lohnt sich. Und er hilft durch die normative Kraft des Faktischen dabei mit – wenigstens ein bisschen, und wenigstens in Varanasi –, die furchtbaren Kastenschranken abzumildern, die das Land seit jeher prägen.
    In Indien bekennen sich mehr als vier von fünf Einwohnern zum Hinduismus, das sind um die 950 Millionen Menschen; und obwohl sonst nur noch in den kleinen Nachbarländern Nepal, Sri Lanka und Bhutan sowie auf der indonesischen Insel Bali weite Bevölkerungsteile dieser Religion angehören, macht sie das nach dem Christentum und dem Islam zur drittgrößten der Welt. Wie jeder Glauben liefert der Hinduismus den Menschen Halt bei der Bewältigung des Alltags, Trost in Zeiten der Tragik, Aussicht auf ein anderes, besseres Leben nach dem Tod. Auch andere Glaubensgemeinschaften vereinen dabei Widersprüchliches in sich. »Im Hinduismus aber steht Erhabenes und Abstoßendes, Primitives und Sublimes oft so unvermittelt nebeneinander wie nirgends sonst«, formulierte einmal der Indologe und Religionswissenschaftler Helmuth von Glasenapp. »Es ist das vielschichtigste religiöse Gebilde überhaupt.«
    Und wohl auch keines ist in einem Volk so gegenwärtig. Während das Alte und Neue Testament im Westen den meisten Christen eher fragmentarisch bekannt sein dürfte, ist das bei den wesentlichen Schriften des Hinduismus ganz anders. Die Mythen sind höchst lebendig, das Mahabharata und das Ramayana werden selbst von einfachen Menschen auf dem Land oft zitiert und bilden eine unmittelbare Richtschnur für persönliche Entscheidungen. Ihre Verfilmung fürs Fernsehen waren Straßenfeger, wie man sie hierzulande nicht mehr kennt. Die Serien wurden wohl auch ein Riesenerfolg, weil sich das Medium besonders fürs Narrative eignet, für die Wiedergabe von Mund zu Mund. Die Veden sind Hymnen an die Natur und wimmeln von Zaubersprüchen; die Upanishaden weitgehend Dialoge zwischen Meistern und Schülern; im Bhagavad Gita verkündet Krishna seinem Wagenlenker die Lehre von Rechtschaffenheit und gesundem Leben. Der Hinduismus kennt auch dem monotheistischen Glaubensbegriff vergleichbare Vorstellungen. Aber charakteristisch ist der Pantheismus, die Existenz Tausender Gottheiten, die sich um die zentralen Götter scharen oder ihre Manifestationen sind. Alle entsprungen aus Brahman, dem höchsten kosmischen Geist, unbeschreibbar, unerschöpflich, allwissend, allgegenwärtig, in sämtlichen Lebewesen vorhanden.
    Die Hauptgötter treten in vielen, manchmal gegensätzlichen Inkarnationen auf. Shiva ist Schöpfer und Zerstörer zugleich. Seine mächtige Gemahlin Parvati, Mutter des populären Elefantengottes Ganesh, zeigt sich zumindest ebenso doppelgründig: Einmal schlägt sie im tapferen Kampf als zehnarmige Durga die Dämonen zurück. Als Kali, nackt und mit einer Halskette aus Totenschädeln, ist sie der blutrünstige Schrecken schlechthin und verlangt grausige

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