Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Ravi Shankar.
Alles ist im Fluss: Hektik wie Ruhe, Intensität und Entspannung gehen nahtlos ineinander über. Und weil der Tod in Varanasi seinen Schrecken verloren hat und direkt zum anderen Ufer in eine bessere Existenz führt, wird auch er zum Teil der pulsierenden Lebensfreude, zum lohnenden Business: »Sparen Sie nicht, kaufen Sie nur das beste Sandelholz für die Verbrennung ihrer Liebsten!«, wirbt ein Händler in Neonschrift, was er nicht tun sollte. Eigentlich ist der Verkauf der Requisiten der Dom-Berufsgruppe vorbehalten, den Männern aus der untersten Schicht der Kastenhierarchie – den Dalits, die eigentlich gar keiner Kaste angehören, so minderwertig sind sie für die konservativen Interpreten der Religion. Ohne die Spezialisten kann keine Einäscherung organisiert werden, sie haben seit mythischen Zeiten die Oberaufsicht an jedem Verbrennungsplatz.
Einmal hat mich ein Freund gebeten, bei der letzten Feier für seinen Onkel Teil der Prozession zu sein, ich hatte den alten Mann gut gekannt und sehr gemocht. Wir waren wohl an die zwanzig, außer mir alle Familienangehörige. Den kurzen Weg des Leichenzugs hinunter zum Manikarnika Ghat begleiteten uns Trommler; unten an der Verbrennungsstätte am Fluss machten sie Pause. Es gibt keine festen Zeiten für die Einäscherung, am Manikarnika ist 24 Stunden durchgehend Betrieb. Aber an diesem Nachmittag, so schien es mir, war der Platz besonders aktiv. Vielleicht ein halbes Dutzend Leichen, gehüllt in weißes Leinen und auf Holztragen gebettet, waren am Fluss abgestellt, und wohl ebenso viele Scheiterhaufen loderten schon. Über dem Ghat verbreitete sich ein hauchdünner, milchiger Schleier. Der klobige Tempel am Fluss, auf vier Säulen gebaut, hatte sich durch den permanenten Russ über die Jahrhunderte eingeschwärzt. Die geschäftigen Doms liefen von Leiche zu Leiche. Aber vor allem kümmerten sie sich um das sakrale Feuer, von dem aus alle Scheiterhaufen angezündet werden müssen. Sie gossen immer wieder Ghee nach, das Butterfett, das die Flammen höher züngeln ließ. Und unser aller Blick ging hinunter zum ruhig dahinströmenden Ganges, der Ewigen Mutter.
Am Wasser hängt, zum Wasser drängt alles im Leben eines Hindus: Heiliges Wasser bestimmt die Taufe und die Mannwerdung, die Hochzeit und den Tod. Für den Gläubigen ist das Leben wie ein riesiges Rad, wie ein Kreislauf. Die Asche der Verstorbenen wird vom Fluss zum Ozean geführt, wird mit dem Wasser von der Sonne aufgesogen, fällt mit dem Regen nieder in den Bergen des Himalaja und speist dort die Quellen des Ganges. Mata , ihre »Mutter«, nennen die Gläubigen den Ganges. Mehr als ein Fluss, eine Göttin, die einst, durch einen Unfall, vom Himmel fiel. Als Shiva die junge Schöne aus den Wolken stürzen sah, eilte er herbei und bremste ihren Fall mit der Augenbraue. Da wurde das Nymphenkind plötzlich zu Wasser, das durch den Bart des Gottes in sieben kleinen Bächen auf die Erde tropfte – sie flossen zusammen und bilden nun den Ganges. Und die Mythologie lehrt weiter, dass der Manikarnika Ghat besonders heilig ist, hierher fiel der Legende nach ein Juwel aus Shivas Ohrring, als er badete. An einer weißgetünchten Wand unten am Fluss von Varanasi steht die Inschrift eines berühmten einheimischen Dichters: »Dies ist Manikarnika, wo der Tod glückbringend ist, wo das Leben fruchtbar wird, wo man auf den Wiesen des Himmels weidet.«
Bevor die Zeremonie für den Onkel begann, wurde sein Körper noch einmal in den Ganges getaucht. Der älteste Sohn der Sippe, den Kopf frisch geschoren und in ein nahtloses weißes Tuch gehüllt, ging ein letztes Mal um die Leiche herum und entzündete dann nach dem vorgeschriebenen Ritual den Scheiterhaufen. Ein würdiger, ein gelassener Abschied – nicht heiter, aber auch alles andere als verzweifelt. Die Einäscherung mit Wehklagen und Trauergesängen zu begleiten, wäre ganz und gar unpassend gewesen, schädlich für die »Befreiung« des Verstorbenen. So gruppierte sich die Sippe stumm um die Bambustragbahre. Während der etwa dreistündigen Feier setzten sich manche und schauten zum Fluss hinunter, andere beobachteten, wie die Doms Brennmaterial nachschütteten, Asche zur Seite räumten und streunende Hunde verscheuchten. Schließlich bedeuteten sie durch ein Nicken, dass es vorbei war, der Körper ihrer Meinung nach hinreichend verbrannt. Da warf der Sohn mit dem Rücken zum Scheiterhaufen einen tönernen Topf mit Gangeswasser über seine Schulter,
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