Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Neunzigerjahren hat es immer zu den Höhepunkten eines Stadtbesuchs gehört, nach einer schweißtreibenden Wanderung durch die Stadt oder einem anstrengenden journalistischen Termin ins kühle Foyer zu spazieren, den kleinen, gut sortierten Book Shop aufzusuchen und im ersten Stock den klassischen High tea einzunehmen. Die Terror-Vorkehrungen erzwingen jetzt einen weit abgesperrten Eingang, Körper- und Taschenkontrollen.
Dafür ist am Apollo Blunder, dem Platz am Hafen, alles wie immer. Die Postkartenverkäufer, die Schlangenbeschwörer und die Trommler haben sich eingefunden. Unter dem Triumphbogen Gateway of India, dem Wahrzeichen der Stadt, kämpfen sie fast verzweifelt um die Aufmerksamkeit der Touristen. Doch die meisten Fremden kommen inzwischen in Gruppen. Ihre Führer schleusen sie gleich zu den bunten Booten, die im Hafen schaukeln und die sie zur Insel Elephanta mit ihren berühmten, aus Felsen gehauenen Höhlentempeln fahren. Die fein ziselierten Shiva-Figuren stammen wohl aus dem 7. Jahrhundert, möglicherweise war hier schon im 2. Jahrhundert die Hauptstadt des Reichs der Traikutakas. Wie so vieles hier verliert sich das im Nebel der Geschichte. Dieser besonderen Bombay-Geschichte.
Manche Herren haben sich über die Epochen hinweg an der Schönheit dieser Region mit ihrem vorgelagerten Eiland vergangen, wenige haben sie wohl wirklich geliebt, noch weniger sie geprägt. Das Fischervolk der Koli taufte ihre ärmliche Ansiedlung an der malariaverseuchten Küste nach einer Hindu-Gottheit »Mumbai« (und so soll die Stadt nach dem Wunsch von Hindu-Nationalisten jetzt wieder heißen, was sich bei den meisten Bombayern im Alltag noch nicht durchgesetzt hat). Bom Baia , »gute Bucht«, nannten den Platz die Portugiesen. Sie gaben ihn ihrer Prinzessin Katharina von Braganza 1661 als Mitgift – der bescheidene Hafen liege wohl »irgendwo in Brasilien«, hieß es bei der Hochzeit, als der englische König Karl II. bei seiner jungen Ehefrau nachfragte. Nichts Bedeutendes, mit anderen Worten. Und Weltgeltung maß der Monarch auch später Bom Baia nicht zu, als er schon wusste, wo es wirklich lag. Die Krone übertrug den Ort 1668 gegen eine geringe Leihgebühr an die British East India Company.
Die Kaufleute sahen das Potenzial. Sie machten aus Bombay ein Zentrum des Handels und der Industrie, einen Freihafen im wahrsten Sinn des Wortes. Jeder, der Geschäfte machen wollte, war hier willkommen – so entstand eine eigene Kaufmannskultur: Dhandha , der Umschlag von Waren, ging über alles. Dann wurde 1899 der Suezkanal eröffnet, die Reisezeit zwischen Europa und Asien verkürzte sich um die Hälfte, Bombay wurde zum neuen Weltzentrum für Baumwolle, zum »Manchester des Ostens«. Die Stadt lief Kalkutta den Rang als kostbarster Besitz des Empire ab. So war es mehr als symbolisch, dass Londoner Baumeister hier am Hafen 1924 aus gelbem Basalt einen Triumphbogen errichteten, zu Ehren des britischen Königs Georg V. Und dass sie an dem imposanten Bauwerk ein Schild anbringen ließen: »Urbs Prima in Indis« – Stadt Nummer eins im Kolonialreich.
Aber auch die Kämpfer für die Unabhängigkeit operierten entscheidend in Bombay. Mahatma Gandhi – »dieser nackte Fakir«, wie ihn Winston Churchill einmal in einer Mischung aus Verachtung und Verzweiflung nannte – wurde hier 1942 für seine aufsässiggewaltlosen Kampagnen gegen die fremden Herren verhaftet. Die Staatsgründung fünf Jahre später konnten sie damit nicht verhindern. 1948 marschierten die letzten britischen Truppen durch das Gateway of India zum letzten britischen Schiff, das aus dem Hafen abdampfte. Doch die sozialistischen Dauerexperimente der ersten unabhängigen Regierungen in Neu-Delhi trafen die Geschäftsmetropole hart. Streiks lähmten die Fabriken, und die eifersüchtige Zentrale hielt Distanz – trotz verschiedener Vorstöße machte sie Bombay nicht zu einem eigenen Bundesstaat. »Bombay, Slumbay« wurde zu einem geflügelten Wortspiel, man hört es heute noch.
Doch häufiger ist jetzt ein anderes Wortspiel im Gebrauch: »Bombay, Boombay«. Die Stadt der alten Industrien wandelt sich, sie versucht, sich neu zu erfinden: als Dienstleistungszentrum der Welt, als Wissenshochburg, als Traumfabrik. Es gibt einige hoffnungsvolle Zeichen, dass dies gelingen könnte – entscheidend aber wird sein, die Lebensbedingungen, die Wohnverhältnisse für die Slumbewohner zu verbessern. Für die Mehrheit in dieser Stadt.
Kurz nach neun kommt Mukesh Mehta
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