Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Hälfte aller Parsen weltweit.
Godrej hat für seine Mitarbeiter riesige Wohnsiedlungen im Grünen errichtet, unterstützt Schulen, Krankenhäuser, Umweltprojekte. Das hindert ihn nicht daran, ein knallharter Geschäftsmann zu sein, der als Chef des Unternehmerverbands die Zentralregierung in Delhi immer wieder zu Reformen drängt. Besonders die »indirekten Steuern« – seine vornehme Umschreibung für Korruption im Land – müssten abgeschafft werden. Grundsätzlich aber glaubt er, dass Indiens Unternehmen zu den »innovativsten und konkurrenzfähigsten der Welt zählen«. Wo Ambani Vergleiche mit Schanghai scheut, zieht sie Godrej ganz offen. »In Sachen Infrastruktur haben wir gegenüber der chinesischen Konkurrenz noch einen riesigen Nachholbedarf. Ansonsten bin ich froh, dass Bombay nicht Schanghai ist.« Er glaubt, die indischen Universitäten seien überlegen. Außerdem gereichten die Rechtssicherheit, das »Ventil« der demokratischen Wahlen und die allseits geläufige englische Sprache Indien zum Vorteil. »Ich sehe die Volksrepublik China nicht als Konkurrent, sondern als Partner – in vielen Bereichen ergänzen wir uns ideal.« Das gilt seiner Meinung nach auch für Brasilien, »ein Land, das uns in seinem chaotischen, erfinderischen Vorwärtsdrang sehr ähnelt«.
Ein Tag im Leben von Bombay.
Kurz vor vier Uhr morgens. Die Stadt erwacht früh, sehr früh, und diese Morgenstunden haben etwas Gnädiges. Die Luft ist um diese Zeit auch im Sommer, wenn die Temperaturen unerträglich werden und der Monsun seine ersten schweren Wolken schickt, ganz angenehm. Eine leichte Brise weht von der erleuchteten Uferpromenade, die sich um die zungenförmige Innenstadt schlingt, »Perlenkette der Königin« nennen sie die Einheimischen. Frische Salzluft legt sich über die beißenden Abgase und faulen Ausdünstungen, die das überfüllte, tageshektische Bombay sonst so unangenehm beherrschen. Erste Jogger traben den Marine Drive entlang. Am Zentralbahnhof Victoria Terminus setzt sich ruckelnd und rumpelnd der erste Frühzug in Bewegung.
Bhavan springt jeden Morgen auf, in letzter Sekunde, er hat dieses Timing, im Schlaf sozusagen, er ist unterwegs zu seiner Arbeitsstätte, einer Klitsche von Fleischfabrik weit draußen in der Vorstadt. Dort trennt der junge Arbeiter mit seinem sichelförmigen Spezialmesser Frösche von ihren Schenkeln. Das funktioniert folgendermaßen: Mit der linken Hand in den Plastikbeutel mit der Chlorlauge greifen, das betäubte Tier herausholen, Chirurgenschnitt, die Beine fliegen in einem hohen Bogen Richtung Salzlauge, wo sie die Arbeiterinnen zur Verpackung übernehmen, die Restkörper kommen in einen Korb. Und wieder zack, abtrennen, entsorgen, zack, zack, auf ein Neues. Acht Stunden Schicht. Es ist kein besonders gut bezahlter Job, und manchmal ekelt ihn die Arbeit, aber es ist der einzige Job, den er gefunden hat. Auch sein verstorbener Vater hat das Froschschenkel-Business schon gemacht, damals im Zentrum an den Sassoon Docks, die schon längst modernisiert sind. Er hat dem einzigen Sohn immer geraten, sich etwas Besseres zu suchen. Aber nun ist Bhavan auch schon 22, hat gerade eine eigene Familie gegründet, da ist es schwer, den Absprung zu schaffen. Der Froschschenkel-Export ist zwar nach einer Intervention der Hilfsorganisation Beauty without Cruelty (»Schönheit ohne Grausamkeit«) offiziell eingefroren und dann von den Behörden ganz verboten worden – was allerdings nur heißt, dass man in den Untergrund gegangen ist. Das Business blüht jenseits der Legalität weitgehend ungestört weiter. Zu verlockend sind die Gewinnspannen. Aber es geht wegen der Anlieferung der Tiere schon zu nächtlichen Stunden los. Und so lässt sich Bhavan, graue Hose, rotes, verwaschenes T-Shirt, Typ Bollywood-Star in Wartestellung, mit einigen Dutzend anderen in den Eisenbahnwaggon fallen. Der einzige Vorteil des frühen Aufstehens: Es gibt jetzt noch Stehplätze, dort, wo man sich tagsüber buchstäblich zerdrückt.
Bhavan hat die neue verschärfte Froschregelung übrigens mit einem Achselzucken kommentiert. So richtig hat er nicht verstanden, was die Ausländer, die sich »Tierschützer« nennen, umgetrieben hat. »Aber vermutlich sind ihnen Frösche heilig«, sagt er. Ein solches Konzept ist Bhavan bekannt. Ihm als Hindu sind Kühe heilig. Verirrt sich eine auf die Straße, drehen selbst die sonst so rücksichtslosen Taxifahrer respektvoll eine Kurve. Muslime wollen mit Schweinen nicht in
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