Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
überflüssigen oder gar wertlosen Müll gibt es nicht in Dharavi. Auch hier haben sich die meisten spezialisiert: Die jüngsten, oft unter zwölf, jagen wie die Aasgeier allem Weggeworfenen hinterher, schnappen sich von den nahen Bahngleisen die Zigarettenpackungen, Zeitungen und Plastiktaschen. Die erfahreneren Jugendlichen durchforsten Straßencontainer und Kloaken nach Bierflaschen und Coladosen. Die Profis, meist zwischen 15 und 25 Jahre alt, zerlegen ausrangierte Computer, Waschmaschinen und Kühlschränke. Am Ende der Müllverwertungskette stehen die Cleversten: die Mülltrenner. Sie sortieren die verschiedenen Papierarten, Batterien und Kunststoffe fein säuberlich, bevor sie dann in unterschiedliche Jutesäcke wandern, von Zwischenhändlern abgewogen und weitertransportiert werden. In der Slum-Hierarchie stehen die Mülltrenner ziemlich weit oben – unsortierter Abfall ist nicht einmal ein Zehntel wert.
Dharavi ist voll von Überlebenskünstlern, und dazu zählen auch die Mädchen. Sie handeln in den nahen Mittelklassegegenden mit Lotterielosen und Lederstickereien, mit Pfauenfedern und Plastikblumen. Die Älteren massieren am Strand von Juhu Muskeln oder säubern Ohren, sie beschwören Schlangen für die wohlhabenden Einheimischen oder die staunenden Touristen, sie deuten Träume oder dressieren Affen. Sie sind Verkaufskünstlerinnen und Improvisationstalente: mal herausfordernd, mal demütig oder tränenumflort. Wie es die Situation eben gerade erfordert. Und abends kehren sie in den Kreis der Familie zurück und liefern in der Regel auch die erwirtschafteten Rupien ab.
Einer der neuen Trends im Slum sind die Schönheitssalons. Sie heißen ziemlich pompös Sunita Beauty Parlour oder Roza’s Lovely Place und sind meist nur zehn Quadratmeter groß, oft untergebracht in abenteuerlichen Hüttenaufbauten, nur über rostige Feuerleitern zu erreichen. Im Salon Anu erhellt eine flackernde Glühbirne den selbst gebastelten Schminktisch. Der Spiegel hat einen Sprung, Nagellack, Shampoos und diverse bunte Cremes sind ausgebreitet. Die Flüssigkeit der letzten Haarwäsche schwappt über den Boden und bedroht einen Kakerlaken-Treff in der Zimmerecke. Alles wird recycelt, selbst abgeschnittene Haare, die Anu zu Puppenfrisuren aufbereitet. An der Wand hängt als einziger Schmuck des Raums ein Kalenderblatt des strahlenden Filmstars Aishwarya Rai, Ex-Miss-World und Bollywood-Spitzenverdienerin. Anus Vorbild. Der Konkurrenzkampf im Slum ist so groß, dass die resolute Jungunternehmerin Ende zwanzig (»so genau weiß ich das nicht«) für eine Maniküre einen Kampfpreis auf ihr Werbeschild geschrieben hat, sieben Rupien, etwa 15 Cent – nur so kann sie neue Kundinnen gewinnen. Der Umsatz macht’s. Ihr Schönheitssalon brummt, sie arbeitet 18 Stunden am Tag. Im Bedarfsfall, wenn Hochzeiten im Slum anstehen, auch die Nacht durch. Anu hat inzwischen schon drei Helferinnen eingestellt, sie ist dabei, die Hütte nebenan zu übernehmen. »Und dann würde ich eines Tages auch gerne einen richtigen Kosmetikkurs besuchen und mal Kundinnen bedienen, die das große Geld haben«, sagt sie.
Den Traum von einem anderen Leben sollte aber niemand gleichsetzen mit dem unbedingten Wunsch, Dharavi möglichst schnell zu verlassen. »Es mag sich für Sie seltsam anhören, aber wir haben etwas zu verlieren«, sagt Jockin Arputham, Sprecher der größten Bürgerinitiative im Slum und Besitzer eines Autos und zweier Handys. »Dharavi ist alles andere als ein Idyll, aber es ist unsere Gemeinschaft. Auch wenn es öfter Streit gibt, auch wenn das Leben hart ist, hier muss keiner verhungern, hier hat jeder einen Job und wird, wenn er denn will, von anderen aufgefangen.« Mit 18 ist Arputham vom Land hierhergekommen, er lebt nun schon über 45 Jahre in Dharavi. Er verkauft Dharavi gegenüber Fremden als eine Art Vorzeigeslum. Aber mit den Politikern, heißt es, verhandle er hart. Beispielsweise in Sachen Sanitäres, ein heikles Thema. Denn auch im Jahr 2013 müssen sich noch mehr als 300 Menschen eine Toilette teilen. »Wir werden das auf fünfzig zu eins drücken.«
Was hält er von den revolutionären Sanierungsplänen des Herrn Mehta? »Ganz wenig«, sagt er. »Wir sind da höchst misstrauisch, und hören Sie sich um, das ist allgemeine Meinung.« Tatsächlich finden sich in Dharavi kaum Befürworter einer umfassenden Modernisierung. Sie haben vor allem Angst davor, trotz anderslautender Versprechungen aus der Innenstadt vertrieben zu
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