Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
dass die BRICS für Investoren ins zweite Glied treten sollen. »Noch lange nicht ausgereizt«, sind seine Worte. Aber er weiß, der Markt sucht immer neue Impulse. Also hat er ein Konzept der möglichen Nachfolger entworfen: Mexiko, Indonesien, Südkorea, Türkei; jemand machte daraus das Kürzel MIST . »Ich weiß, das klingt auf Deutsch nicht besonders gut, aber wirtschaftlich sind diese Staaten im Kommen.« Europäische Banken haben sein Konzept schnell übernommen und SMIT -Investmentfonds aufgelegt, die gleichen Länder, eine andere Reihenfolge.
Jim O’Neill nimmt’s achselzuckend hin. Für ihn lässt sich alles in Zahlen auflösen, Staaten sind Algorithmen, die Zukunft ist ein gut zusammengestelltes Aktien-Portfolio. Menschen sind Verfügungsmasse, und wenn es mit der Wirtschaft eines Landes prozentual aufwärtsgeht, wird sich das irgendwie auch positiv für die Ärmsten auswirken, glaubt er. Der Trickle-Down-Effekt: Auch unten bleibt schließlich was hängen. Für sentimentale Weltverbesserer ist in seinem Universum kein Platz.
Amartya Sen gehört zu den Wenigen auf der Welt, die universalgebildet sind und trotzdem nicht eingebildet, sondern bescheiden; die als erfolgreiche Spezialisten auf einem hochkomplexen wissenschaftlichen Fachgebiet arbeiten und trotzdem den Blick für die Lebensumstände der unteren Schichten nie aus dem Blick verloren haben. Das britische Prospect Magazine hat Sen gerade wieder zu einem der zehn wichtigsten Intellektuellen des Jahres weltweit erkoren, eine Ehre, die er beispielsweise mit dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins, dem Atomphysiker Peter Higgs und dem Psychologen Daniel Kahneman teilt. Sen hasst es, wenn er sich eine Laudatio nach der anderen anhören muss, und noch unwohler fühlt er sich bei Danksagungen. Bei drei ganz besonderen Ehrungen kam er nicht darum herum: beim Nobelpreis für Wirtschaft 1998, bei der höchsten indischen Staatsauszeichnung (Bharat Ratna) 1999 und bei der vom US -Präsidenten persönlich vergebenen Medaille für »Verdienste um die Menschlichkeit« 2012; Sen war der erste Nichtamerikaner, der sie erhielt.
Unser Gespräch vor einigen Jahren fand in einer der heiligen Hallen der amerikanischen Elite-Universität von Boston statt. Sen war konzentriert von der ersten Minute an, scharfsinnig, auf den Punkt. Ich war gerade von einer Reportage aus West-Bengalen zurück, seiner Heimat, und wir sprachen zuerst über die literarische Tradition der Region. Und über die bedeutenden Brahmanen-Familien, zu denen auch die seine gehört. Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore kannte Sens Großeltern gut, er half mit, den Namen für den Kleinen auszusuchen – Amartya heißt »der Unsterbliche«. Sens Vater war Professor für Chemie, im Elternhaus ging die intellektuelle Elite ein und aus. Auch religiöse Denker. Aber der Hinduismus habe ihn wenig beeinflusst, erzählte Sen, der sich eher zu einer Weltanschauung ohne Gott hingezogen fühlt. Er betont das Politische an den großen heiligen Schriften. »Die Menschen in der ganzen Welt empfinden Indien als spirituell geprägt. Dennoch hat das Sanskrit einen größeren Anteil an atheistischer Literatur als andere klassische Sprachen. Madhava Acharya, der große Philosoph aus dem 14. Jahrhundert, schrieb ein wunderbares Buch mit dem Titel Sarvadars Ana Sangraha , in dem er die Struktur des Hinduismus diskutierte – das erste Kapitel heißt ›Atheismus‹.«
Professor Sen, wen sehen Sie im Entwicklungsmarathon zwischen den Großen vorn: China oder Indien?
»Das kommt darauf an, wie Sie Entwicklung und Fortschritt verstehen. Viele meiner Kollegen nehmen das Bruttoinlandsprodukt, das BIP eines Staates, und das durchschnittliche Prokopfeinkommen als die einzig entscheidenden Kriterien. Dies ist viel leichter zu verfolgen und zu messen als die Lebensqualität. Ich halte es mit Adam Smith, der den Erfolg der Wirtschaft daran maß, welche Freiheiten sie dem Einzelnen ermöglichte. Wirtschaftswachstum ist ein wichtiges Kriterium, aber eben nur eines. Entscheidend wird es nur als Mittel, um den Bürgern bessere Chancen zu ermöglichen. Menschliches Wohlbefinden und Freiheit in Verbindung mit Fairness können nicht einfach auf das BIP und eine Wachstumsrate reduziert werden. Entwicklung bedeutet für mich materieller Wohlstand ebenso wie Zugang zu Bildung; medizinische Grundversorgung ebenso wie das Recht auf freie Religionsausübung; Möglichkeit zur politischen Einflussnahme ebenso wie Schutz vor
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