Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Polizeiwillkür. «
Müssen Sie da nicht an beiden Giganten verzweifeln?
»Nicht unbedingt, es geht voran. Die Schwäche des einen ist dabei die Stärke des anderen. China hat größere Erfolge beim Ausbau der gesundheitlichen Grundversorgung und einer breit gesteuerten Schulbildung erreicht. Indien schneidet besser ab beim Schutz der Bürgerrechte, in Sachen politische Mitbestimmung und Pressefreiheit. Grundsätzlich gilt: Nur wer Schuhe trägt, weiß, wo sie drücken. Und Maßnahmen mit dem Ziel, dass sie nicht mehr schmerzen, können nur wirksam sein, wenn den Menschen Mitspracherechte und umfangreiche Möglichkeiten für die öffentliche Diskussion eingeräumt werden. Es ist deprimierend, dass die Führungen beider Länder über ihre jeweiligen Defizite hinwegsehen, anstatt auch mal systemübergreifend voneinander zu lernen. Bei meinen Forschungen bin ich zu dem Ergebnis gekommen: Nicht die Autokratie, sondern die demokratische Regierungsform hilft dabei, extreme Fehlentwicklungen zu korrigieren. Es gab beispielsweise noch nie eine riesige Hungersnot in einer Demokratie. Hungerkatastrophen wurden nur in Militärdiktaturen, in kommunistischen Staaten und in Kolonien registriert. Auch in Britisch-Indien kam es immer wieder zu einer solchen Tragödie, in meiner Heimat Bengalen starben 1943 an die drei Millionen Menschen – aber seit der Einführung eines Mehrparteiensystems, dem Zulassen einer freien Presse passiert so etwas nicht mehr.«
Sen holt nur kurz Atem. »Das liegt zum Teil natürlich auch an verbesserten Anbaumethoden, aber wesentlicher ist die politische Kontrolle der Regierenden. Hätte es in China zwischen 1958 und 1961 etwa eine unabhängige Presse gegeben, wäre es nicht zu den schlimmen Auswüchsen gekommen, zum Wahnsinn des von oben verordneten und brutal durchgesetzten sogenannten Großen Sprung. Die KP sah sich keinem Druck ausgesetzt, zu keiner Kurskorrektur veranlasst. Der Große Vorsitzende war geblendet von seiner eigenen Propaganda. Deng Xiaopings pragmatische Politik hat dann zu dem Aufschwung geführt, den wir heute in China beobachten. Ich warne allerdings davor, daraus zu schließen, dass es sozusagen naturgegeben auch zu einer politischen Liberalisierung kommen müsse. Vielleicht ist es ganz langfristig so. Aber bis dahin können noch viele Rückschläge folgen. In Indien hat sich, bei allen Unzulänglichkeiten, die Demokratie als Staatsform bewährt, sie hat sogar zum nationalen Zusammenhalt beigetragen. Und Indien ist ein ethnisch weit weniger homogener Staat als die Volksrepublik. Andererseits hat es sich in China gelohnt, auf Schulbildung und medizinischen Fortschritt zu setzen, die Lebenserwartung ist hoch, die Kindersterblichkeit niedrig, jedenfalls im Vergleich zu Indien. Dafür verdient dieses System gute Noten. Chinesen und Inder müssen beide begreifen, dass Entwicklung Freiheit heißt – die Freiheit von Armut und von Tyrannei.«
Den bescheidenen Nobelpreisträger hat auch der höchste indische Orden nicht davon abgehalten, sich weiter sehr kritisch mit der Politik seines Heimatlandes zu beschäftigen. In mehreren Veröffentlichungen äußerte er sich geradezu verzweifelt zu der Politik in Neu-Delhi. Er hat aufgehört, Indien mit China zu vergleichen. Er nimmt nun Bangladesch als Maßstab – und stellt fest, dass Indien in vielen Bereichen schlechter abschneidet als sein Nachbarstaat, den so viele für ein unverbesserliches Armenhaus halten. Beispielsweise in Sachen Kinderimpfungen, Verringerung der Analphabetenrate bei Frauen, Zugang zu Mikrokrediten. Ganz zu schweigen von einem aufstrebenden Staat wie Brasilien, der sich im Human Development Index der UNO – auch eine Einrichtung, die Sen mitbegründen half – weit vor China und Indien geschoben hat. »Brasilien änderte seine politische Ausrichtung fundamental, das Land hat sinnvolle und effektive Sozialprogramm eingeführt und dadurch sehr gute Fortschritte gemacht«, lobt der Professor. »Indien aber ist bei allen Spitzenleistungen im Bereich von IT und anderer Hochtechnologie insgesamt ein merkwürdig rückständiges Land geblieben.«
Er liebt seine Heimat, wie sehr sie aber unter ihren Möglichkeiten bleibt, quält ihn. Es zieht ihn oft zurück an die Stätten seiner Jugend. Er hält Vorträge vor Studenten in Kalkutta, vor Diplomaten in Neu-Delhi, vor Geschäftsleuten in Bombay. Ohne Honorar. Sen hat gerade wieder das »teure Missverständnis« angeprangert, eine private Krankenversicherung könne in Indien
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