Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Probleme lösen – das sei eine öffentliche Aufgabe, ebenso wie die Ausbildung in den Grundschulen dürfe man das nicht Unternehmern überlassen. Und während er so die Regierung verärgerte, legte er sich fast gleichzeitig mit der Opposition an, der er vorwarf, soziale Programme zu verschleppen. Er ist unermüdlich, unerschrocken, unbestechlich. Er sei »fast ein Übermensch«, sagen seine Freunde, die manchmal erschöpft sind von dem Tempo, das er vorlegt. Dabei kann Amartya, »der Unsterbliche«, doch unsterblicher kaum noch werden.
Lee Kuan Yew habe ich Mitte der Achtzigerjahre in seinem Regierungssitz in Singapur kennengelernt. Es war ein eher vorhersehbares Interview mit einem völlig überraschenden Ende. Anfangs sprachen wir aneinander vorbei. Er pries sein Singapur, und das, angesichts der Wirtschaftsdaten und der Steigerung des Lebensstandards, weiß Gott nicht ohne Grund. Ich verwies auf die Schattenseiten und stellte dazu Fragen, die er nicht beantwortete. Wohl auch nicht ohne Grund. Journalisten hielt Lee grundsätzlich für Spinner oder schlecht informierte Störenfriede. Er mochte kritische Einwände nicht, eine Grundhaltung, die er mit vielen Politikern in Ost und West teilte. Singapurs starken Mann unterschied von den anderen Staatslenkern, dass er sich überhaupt keine Mühe gab, diese Haltung zu verbergen. Nur wenn es um die große Weltpolitik ging, hellte seine Miene auf, da wollte er die Bögen über die Kontinente spannen, da verbreitete er gern Konzepte – schon damals war klar, dass für diesen Mann seine Insel viel zu klein war. Ebenso weitsichtig wie brillant dozierte er über die Zukunft alter und neuer Großmächte. »Das 21. Jahrhundert wird ein Zeitalter des Wettstreits zwischen China und den USA . Noch führt Washington mit einigem Abstand, und es wird eine Weile noch so bleiben. Aber wie lange die Amerikaner ein Gegengewicht zu China bilden können, das vermag ich nicht vorherzusehen. Und andere Staaten werden aufholen, sich nach vorne spielen – Indien, Brasilien.«
Nach genau 44 Minuten und 30 Sekunden war seine Geduld erschöpft. Er hatte mir in seinem Terminplan eine Dreiviertelstunde gegeben, erstaunlich lange, fand sein Stab. Seine innere Uhr zeigte ihm an, dass die Zeit abgelaufen sein musste. Er stand auf, reichte mir die Hand und sagte: »Ich nehme an, Ihre Zeit ist kostbar, meine ist es jedenfalls. Deshalb machen wir Schluss. Aber ich muss jetzt noch etwas für meine Gesundheit tun. Kommen Sie mit joggen, ein paar Runden raus in den Garten?«
Während ich die Muskeln lockerte und er sich neben mir seine Sneakers anzog, sorgfältig, als gäbe es einen Singapurer Preis für Jogging-Akkuratesse oder Strafpunkte für Schlamperei am Schuh, sagte er doch noch etwas Unerwartetes. »Sie haben mich da vorhin mit Fragen zur Opposition gelöchert. Ich bin auch nicht zufrieden damit, dass wir von der Regierung keinen ernstzunehmenden Gegner haben. Ich glaube, ich werde mir eine intelligente, konstruktive Opposition heranzüchten.«
So dachte und denkt Lee Kuan Yew immer an alles. 31 Jahre diente er als Ministerpräsident, 24 weitere Jahre bleibt er als Senior Minister und Mentor Minister – eine speziell für ihn geschaffene Funktion – im Kabinett, ehe er sich 2011 aus der aktiven Politik zurückzieht. Eine äußerst beeindruckende Karriere, in deren Verlauf ich ihm öfter wiederbegegnet bin. Und immer gab es einen Ansatz, mit dem man den stets gehetzten, oft schroffen Lee Kuan Yew gewinnen konnte: indem man ihn auf Helmut Schmidt ansprach. Der Deutsche ist einer der ganze wenigen Politiker, den der Chinese neben sich gelten lässt, den er auf intellektueller Augenhöhe sieht. Auch ein Pragmatiker, auch ein Tatmensch, auch einer, der das große Ganze im Blick hat (und die meisten Journalisten für Flachmänner hält). »Ich schätze ihn sehr«, betonte Lee ein ums andere Mal. »Er gehört zu den Staatsmännern, die profunde wirtschaftliche Kenntnisse mit politischem Weitblick verbinden.« Die Hochachtung beruht, wie man vom Altkanzler weiß, auf Gegenseitigkeit – und darauf, dass beide Herren gnadenlose Realpolitiker sind. Beispielsweise hatten beide wenig Sympathien für die 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Peking demonstrierenden Studenten und konnten das harte Vorgehen der Ordnungskräfte durchaus nachvollziehen.
In letzter Zeit, so scheint mir, ist »Harry Lee«, wie ihn Schmidt gern nennt, etwas altersmilde geworden. Gnädiger, offener, nachsichtiger, wie auch sein
Weitere Kostenlose Bücher