Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
auszubügeln. Einige Bewohner beklagen sich lautstark, aber sie werden von der Polizei abgedrängt. Nach einigen Minuten resignieren sie, und die Abrissbirne verrichtet ihr Zerstörungswerk. Damit die Expo-Besucher das alles nicht zu sehen bekommen und auf dem Weg zu den Prachtpavillons nicht gestört werden, lassen die Stadtväter an der Zufahrtsstraße drei Meter hohe Sichtblenden hochziehen, auf denen grüne Parkanlagen zu sehen sind. Michelle Ye stört es nicht, im Gegenteil. »War ein Schandfleck«, sagt sie. Ihr Apartment liegt in einer restaurierten Villa der ehemaligen Französischen Konzession, feinste Wohngegend. Von Videokameras überwacht.
Eine Welt weiter: An den Eingängen der Wohnanlage im Stadtbezirk Baoshan, fern vom Zentrum im Norden Schanghais, achten Blockwarte in Kontrollhäuschen darüber, dass keine Unbefugten auf das Areal gelangen. Das ist üblich, auch hier in einer Gegend der unteren Mittelschicht. Dennoch passiert hier bisweilen Unerhörtes. Die Gefahr für Ruhe und Ordnung kommt allerdings nicht von außerhalb, sie kommt von innen, von einem der Bewohner.
Die Spuren des jüngsten Zwischenfalls sind noch sichtbar an den grauen Außenwänden des heruntergekommenen Wohnblocks. »Funktionäre der Kommunistischen Partei sind Schweine« stand da an der Wand, und obwohl die Schriftzeichen abgewischt wurden, lässt sich der Spruch noch deutlich erkennen. Der Mann, der die Herren von Schanghai mit seinen Pinselstrichen herausfordert, heißt Zhang Junwei und wohnt gleich rechts im Parterre. Er ist 65 Jahre alt, hat eine silberne Brille und grauweiße Haare – er sieht aus wie irgendein Rentner von nebenan, nicht so, wie man sich einen revolutionären Graffiti-Sprüher normalerweise vorstellt.
Auf eine schwarze Tafel neben die Briefkästen haben die Nachbarn mit Kreide säuberlich den offiziellen Slogan zur Expo geschrieben: »Bessere Stadt, besseres Leben«. Herr Zhang empfindet diesen Spruch als bittere Ironie. Sein Leben jedenfalls, sagt er, werde immer trüber. Seit über einem Jahrzehnt schon kämpft er um eine Entschädigung für seine frühere Wohnung im Zentrum, die modernen Apartments hatte weichen müssen. Ohne jede Reaktion. So malte er seinen Protest an die Wände, immer aggressiver. Eines Tages verlor die Obrigkeit die Geduld, ein Dutzend Polizisten drangen in seine Wohnung ein und führten den Aufsässigen ab. Eine Geschichte des Widerstands, wie sie sich in Schanghai wie auch sonst überall im Boom-Land China fast täglich wiederholt. Stundenlang wurde der Rentner verhört, je vier Beamte nahmen ihn in die Mangel. Er sollte erklären, dass er »psychisch krank« sei. Zhang verweigerte die Unterschrift, saß einige Wochen in Haft, kam dann wieder nach Hause. Fand seine Frau am Boden liegend. Auch dafür macht er den Staat verantwortlich: »Sie hat sich so aufgeregt.« Seit dem Schlaganfall kann sie sich kaum mehr bewegen, nicht mehr sprechen. Früher arbeiteten beide in einer Waffenfabrik, waren Mitglieder der KP , glaubten an Mao und den Kommunismus. Jetzt müssten sie von 800 Yuan (etwa 80 Euro) Rente im Monat leben, das Geld reiche vorne und hinten nicht. Das zerbrochene Fensterglas hat er schon gar nicht mehr ersetzt, alles nur notdürftig mit Pappe abgedeckt. »Ich will doch nicht die Regierung stürzen, ich will nur mein Recht, das, was mir in der Verfassung garantiert wird«, sagt Zhang Junwei und klopft verzweifelt auf den umgekehrten Bierkasten, der ihm als Ersatztisch dient. »Unser ganzes Leben haben wir der Partei geopfert – und nun das.«
Wie es weitergehen soll mit Schanghai, zeigt eindrucksvoll ein Museum mit dem sperrigen Titel Urban Planning Exhibition Center. Die meisten ausländischen Gäste lassen es links liegen, dabei ist das Gebäude am Platz des Volkes im Zentrum der Stadt eine der Hauptattraktionen. Dort, wo sich in sündigen Zeiten der Rennplatz der Stadt erstreckte, erhebt sich die 43 Meter hohe architektonische Schönheit aus Glas und weißem Aluminium, die Verzierung auf dem zeltartigen Dach – die stilisierte Blüte einer Magnolie, Schanghais Wappenblume – lässt sich allerdings nur aus der Luft sehen.
Im Innern wird auf vier Stockwerken ein Rückblick auf die Geschichte der Metropole gegeben, mal geschönt, mal mit ideologisch verbrämten Auslassungen, gelegentlich auch erstaunlich ehrlich. Aber viel interessanter ist: Im Stadtentwicklungsmuseum wird detailliert gezeigt, wie die politisch Verantwortlichen sich die Zukunft vorstellen. Eine
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