Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
geschafft gewesen, hätte nicht Polizeichef Wang Verdacht geschöpft. Ob der bisher so skrupellose Vertraute des Bürgermeisters moralische Bedenken hat, ob er mit der Bo-Gattin im Streit liegt oder schlicht seinen Boss erpressen will, bleibt unklar: Jedenfalls konfrontiert Wang Anfang 2012 Bo Xilai mit einem Gutachten. Er hat Blutproben von der Leiche nehmen lassen, Zyankali nachgewiesen.
Doch Bo will von einem Mordkomplott nichts wissen. Er schreit seinen Vertrauten zusammen, schlägt ihm in einem Wutanfall sogar ins Gesicht, droht mit Entlassung und Überwachung. Eine KP -interne Intrige hat sich zu einem Mordkomplott gegen einen Ausländer ausgeweitet und wird nun zum größten Skandal der jüngeren chinesischen Geschichte – mit nationalen und sogar internationalen Folgen, die Pekings Führer bis heute nicht ganz in den Griff bekommen haben. Anfang Februar flieht Wang Hals über Kopf mit seinem Privatwagen aus Chongqing. Er weiß, es gibt in der Volksrepublik keine unabhängige staatliche Autorität, der er sich anvertrauen kann. Seine einzige Chance: das nächstgelegene Konsulat der USA , das sich im 250 Kilometer entfernten Chengdu befindet. Er fährt die Nacht durch. Er weiß: Die geheimen Informationen, über die er verfügt, sind so brisant, dass sie das Machtgefüge der zweiten Supermacht erschüttern können: Es geht nicht nur um den Mord, sondern auch um die geheimen Mitschnitte. Im Gegenzug für seine Enthüllungen erwartet er sich politisches Asyl.
Wang wird bitter enttäuscht: Die westliche Supermacht will sich nicht in die chinesischen Interna einmischen. Nur wenige Stunden nach Wangs Auftauchen ist das Konsulat von chinesischen Sicherheitskräften umstellt. Und nur wenige Tage nach diesem 6. Februar 2012 soll Vizepräsident Xi Jinping im Weißen Haus seinen Antrittsbesuch als designierter Parteiführer absolvieren. In hektischen Telefonaten auf höchster Ebene verhindern Washington und Peking, dass sich die Flucht Wangs zu einer handfesten diplomatischen Krise ausweitet. Obama empfängt Xi mit allen Ehren, Wang begibt sich in die Hände der chinesischen Behörden. Am 24. September 2012 verurteilt ein Gericht in Chengdu den so viele Jahre lang als »Super-Polizisten« Gefeierten zu 15 Jahre Haft wegen »Bestechlichkeit« und »Fahnenflucht«.
Bo Xilai macht noch einmal einen letzten, verzweifelten Versuch, die Macht zu ergreifen. Er fliegt nach Kunming, in die Stadt, in der die besten Generalsfreunde seines verstorbenen Vaters leben, und schwört, das »Gedenken an die revolutionären Ahnen« zu pflegen. Doch die höchsten Militärs sind auf die Partei eingeschworen, er kann keine Bataillone hinter sich sammeln, obwohl Peking kurzfristig von Gerüchten schwirrt, ein Putsch stünde bevor. Der Eigenwillige beschließt, auch im Untergang Stil zu bewahren. Fährt Ende Februar 2012 noch einmal zu einer Parlamentssitzung nach Peking, beschuldigt in mehreren öffentlichen Auftritten »reaktionäre ausländische Kräfte«, ihn stürzen zu wollen, und nicht näher benannte Feinde im Innern, »Dreck« über ihn auszuschütten. Am 14. März sitzt er noch einmal Seit an Seit mit seinen Politbüro-Kollegen, ein letztes Gruppenfoto. Abwesend wirkt er dabei, nach oben starrend, als erhoffe er sich von dort noch eine späte Zusage für das »Mandat des Himmels«. Da warten in den Flügeln der Großen Halle des Volkes schon diskret die Sicherheitskräfte, um ihn abführen. Weg von dem, was er so fieberhaft angestrebt hat: dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Weg von Zhongnanhai und dem Mao-Erbe.
Chongqing heute, eine schummrige Kneipe in der Innenstadt, Hongge Ting heißt sie immer noch, »Haus der Roten Lieder«. Trotzig gröhlen sie hier im kleinen Kreis die alten Mao-Weisen, die vor wenigen Monaten noch in aller Munde waren. »Bo lebt für immer in unseren Herzen«, raunt einer der Männer und fügt hastig hinzu, er wolle nicht zitiert werden. Draußen auf den Straßen sind die alten Parolen verschwunden, alles, was an den Bürgermeister erinnern könnte, wurde beseitigt. Im Lucky Holiday Hotel ist die gesamte Belegschaft ausgewechselt, der Ort des Verbrechens – Gebäude 16, Suite 1605 – gesondert gesäubert. Überall Überwachungskameras. Machtmissbrauch, Korruption und »ungehörige sexuelle Beziehungen« zu einer Reihe von Frauen wirft man dem Festgenommenen vor. Im Frühjahr 2013 machen Gerüchte die Runde, Bo Xilai habe einen Hungerstreik begonnen, um eine schnelle Entscheidung über sein
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