Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Bundesstaaten antreten – und nur zwei, die es in der Vergangenheit schafften, den Premier zu stellen: die Bharatiya Janata Party ( BJP ), konservativ und hinduistisch-patriotisch, und den Indian National Congress ( INC ), der in den allermeisten Jahren seit der Unabhängigkeit regiert hat. Wofür der Kongress steht außer für Machterhalt, weiß so recht keiner. Am ehesten lässt sich die Regierungspartei wohl noch als Gruppierung links neben der Mitte einordnen. Wahlen finden turnusmäßig alle fünf Jahre statt, die nächsten sind für den Sommer 2014 angesetzt. Beim letzten Urnengang umfasste das Elektorat 714 Millionen Menschen, weit mehr Wahlberechtigte als in den USA und der Europäischen Union gemeinsam. Weil immer noch fast jeder Dritte weder lesen noch schreiben kann, spielen die Partei-Symbole eine besondere Rolle – fast jeder Inder weiß, dass die ausgestreckte Hand für den Kongress steht, die Lotusblüte für die BJP ; Hammer und Sichel beziehungsweise Sichel und Ähre kennzeichnen die beiden wichtigsten kommunistischen Gruppierungen. Schon weniger bekannt ist, wen der Elefant, das Fahrrad, Pfeil und Bogen oder eine aufgestellte Leiter repräsentiert.
Wer einmal einen Wahltag in der größte Demokratie der Erde gesehen hat (genauer gesagt einen der jeweils vier oder fünf, gewählt wird aus logistischen Gründen in Etappen), wird dieses Erlebnis so schnell nicht vergessen. An den Wahllokalen bilden sich lange Schlangen, in den Städten eilen die Banker in ihren Maßanzügen vorbei, Millionäre geben in manchen Stadtgegenden gleich hinter den in die Gegend zugezogenen Arbeitern die Stimme ab, Bettler treffen auf Beamte, Polizisten reihen sich hinter Pflegerinnen ein. Auf dem weiten Land sind die Eindrücke noch intensiver. Da treffen sich feuerfarbige Sari-Trägerinnen mit halbnackten Sadhus, alte Männer mit ihren gezwirbelten Bärten mit verschleierten Musliminnen. Auffallend ist die große Ernsthaftigkeit, mit der sie ihr Kreuzchen machen oder ihren Fingerabdruck abgeben – Indiens Wähler sind sich ihrer Macht durchaus bewusst. Die Stimmabgabe ist für sie ein Ventil, das einzige, mit dem sie ihren Willen ausdrücken können. Und schon mehrmals wurden gegen alle Erwartungen Regierungen aus dem Amt katapultiert, die ihren Ankündigungen keine Taten hatten folgen lassen. Es gibt viele Gründe, angesichts der politischen Verhältnisse auf dem Subkontinent zynisch zu sein: Fast jeder fünfte der indischen Parlamentarier hat eine Vorstrafe, in den Regionalparlamenten sind es noch mehr, viele Menschen sind anfällig für Wahlgeschenke und uferlose Versprechungen. Scharlatane machen sich das zunutze und schaffen es immer wieder, ein Mandat zu ergattern. Andere buhlen mit merkwürdigen Namen um Aufmerksamkeit. Im nordöstlichen Bundesstaat Meghalaya etwa begeisterten sich beim letzten Urnengang viele für einen großsprecherischen Kandidaten namens »Adolf Lu Hitler«. Aber es wäre ungerecht, Indiens demokratische Wahl auf eine Freak-Show zu reduzieren. Genauso wenig wie das Parlament eine Lachnummer ist – und das, obwohl es mit all seinen Auswüchsen den Anstrich des Unseriösen manchmal geradezu zu suchen scheint.
»Die Demokratie ist für Indien so ungeeignet wie das Tragen von Pelzmänteln im heißen indischen Sommer«, sagte während der Kolonialzeit einmal der britische Staatsminister Lord Morley und bezog sich auf die hohe Analphabetenrate, die archaischen Kasten-Strukturen auf dem Land, die angeblich von der Hindu-Religion ausgelöste »Rückständigkeit«. Viele Intellektuelle auf dem Subkontinent würden vielleicht nicht seiner Wortwahl zustimmen, aber sie betrachteten die komplexe Bürokratie mit all ihren Freiheiten ähnlich wie Morley als Entwicklungshemmnis. Andere sahen – und sehen – in der indischen Demokratie mit ihrer nach Westminster-Vorbild gestalteten Gewaltenteilung, den weitgehend unabhängigen Gerichten, der Presse- und Versammlungsfreiheit das Allheilmittel. Die Wahrheit ist komplexer: Indiens Demokratie rettet und behindert dieses Land, und zwar beides gleichzeitig. Sie bedeutet Mitsprache, Grundrechte für jeden und Abwesenheit staatlicher Willkür – all das wird auf dem Subkontinent garantiert. Aber Demokratie sollte auch zu Good Governance führen, sie muss ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit, Altersvorsorge, Krankenversicherung und Aufstiegschancen für jedermann durchsetzen – und da hat Indiens Regierungsform bisher weitgehend versagt. Neu-Delhi liegt in
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