Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
der Korruptionsstatistik von Transparency International auf Rang 94. Die Skandale, bei denen sich gerade auch Parlamentarier die Taschen vollgestopft haben, häuften sich in den letzten Jahren in einem deprimierenden und fast staatszersetzenden Ausmaß.
Sansad Bhavan heißt das Parlamentsgebäude von Neu-Delhi. Es ist ein eindrucksvolles, riesiges Rundgebäude aus Sandstein mit 144 Säulen und einer Kuppel, errichtet im Jahr 1920 als Monument des britischen Empire. Im Innern befinden sich runde Plenarsäle; einer beherbergt das Oberhaus, die Rajya Sabha, Vertretung der indischen Bundesstaaten. Nominell ist es mit dem Unterhaus, der Lok Sabha, gleichgestellt, dem 552 direkt gewählte Abgeordnete angehören – bezogen auf die Bevölkerung ist es damit das kleinste Parlament der Welt, nirgendwo sonst vertritt ein einzelner Volksvertreter durchschnittlich so viele Wähler wie in Indien. Wenn es ums Geld geht, beim Aufstellen des Haushalts, hat die Lok Sabha die alleinige Macht und gilt deshalb als das bei Weitem einflussreichere der beiden Staatsorgane. Und als das lebhaftere, kontroversere, chaotischere. Oft wird in der Sache sehr ernsthaft, intellektuell anspruchsvoll und sprachlich brillant diskutiert. Die Fähigkeit zur freien Rede ist verbreiteter als etwa im deutschen Bundestag, die Lok Sabha erlebte schon regelrechte Glanzstunden. Aber gelegentlich erinnert die Volksvertretung auch an die unterirdischen Umgangsformen der Parlamente von Papua-Neuguinea oder der Ukraine. Vor einigen Jahren etwa sprang nach einem verbalen Angriff unter die Gürtellinie einer der Abgeordneten einem Minister an die Kehle, daraus resultierte ein Faustkampf mehrerer Parlamentarier, die sich so ineinander verkeilten, dass die Sitzung abgebrochen werden musste. Mehrfach vorgekommen ist auch schon, dass einzelne Volksvertreter ihre Schuhe aufeinander geworfen haben, fast schon an der Tagesordnung ist der Auszug einer ganzen Fraktion aus dem Hohen Haus.
Und immer wieder werden entscheidende Fragen vertagt, Reformen bleiben aus oder werden zerredet, die Ineffizienz des Regierungsapparats ist schon sprichwörtlich. Und so wirkt Indiens Volksvertretung im Guten wie im Schlechten wie das krasse Gegenteil des volkschinesischen (Schein-)Parlaments. Während man sich im Nationalen Volkskongress von Peking nur zum Abnicken längst im kleineren Kreis des ZK besprochener Entscheidungen zusammenfindet und die Langweile der Sitzungen immer wieder dazu führt, dass den Delegierten die Augen zufallen, gibt es in Neu-Delhi fast schon zu viel Action, und die ist eben oft auch unseriös. Der chinesischen Einparteienherrschaft steht die indische Vielparteienherrschaft gegenüber, die zu Koalitionen unterschiedlichster Interessengruppen zwingt und damit oft auch zu einem quälend langwierigen, in der Sache verwässerten Entscheidungsprozess.
Hierarchie- und Harmoniestreben konkurrieren mit einer stolzen Tradition des Pluralismus. Indische Bürger können, anders als chinesische in der Volksrepublik, von ihren Repräsentanten Rechenschaft fordern und sie bei Versagen in die politische Wüste schicken. Der »Right of Information Act«, einer der Glanzpunkte der indischen Verfassung (und erst 2005 dort aufgenommen), zwingt die Behörden, jedem Antragsteller über öffentliche Vorgänge Auskunft zu geben. Das ist eine der wesentlichen Quellen für die kritische indische Presse.
Und es existiert jenseits aller Institutionen auch ein inoffizieller »Auslauf« für den öffentlichen Protest in dieser brodelnden Demokratie: Jantar Mantar heißt der überdimensionale Hyde Park Corner, in der Nähe der gleichnamigen Sternwarten aus dem 18. Jahrhundert gelegen, schmutziger und bevölkerter als das Londoner Original. An einem Sommertag 2013 protestieren da verschiedene Gruppen: Junge Frauen malen Plakate, auf denen sie die »verschleppten Prozesse gegen Vergewaltiger« anprangern. Grimmig dreinblickende junge Muslime beklagen den »Polizeiterror in Kaschmir«. Und eine Gruppe Jugendlicher beklagt mit Schüsseln voller schmutziger Brühe den »skandalösen Mangel an Trinkwasser«. Und wer für eine Demo noch weitere Protestierer braucht, kann sie für ein paar Rupien anheuern, »bereit zum Kampf für jede gute Sache« steht auf dem Schild eines Bettlers. Selbst für oder gegen Jantar Mantar lassen sich Umzüge organisieren. »Das hier ist doch nur ein Placebo der Regierung, die wollen den Protest kanalisieren«, sagt einer; ein anderer meint, die Straße sei ein
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