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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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langjährigen Vertrauten. Sie hatte den Tempel der Sikhs in Amritsar stürmen lassen, in dem höchsten Heiligtum der Glaubensgemeinschaft waren Aufständische verschanzt. Zwei Sikh-Leibwächter rächten das auf blutige Weise. Schon wenige Stunden nach der Ermordung der Ministerpräsidentin wurde Anfang November 1984 Rajiv Gandhi als ihr Nachfolger vereidigt. Im blutigen Chaos, das in Pogromen gegen Sikhs im ganzen Land ausartete, zeigte sich immerhin auch die Stärke des Systems: Indien zerfiel nicht in seine Einzelteile; und, anders als im Nachbarstaat Pakistan, blieb das Militär in den Kasernen und putschte nicht. Das ist wohl das wichtigste Vermächtnis der »Madam G.«: Sie hat, trotz Ausrufen des Ausnahmezustands, die demokratischen Institutionen und die Zivilgesellschaft nicht nachhaltig beschädigt, sie hat ihre Generale auf Abstand gehalten und ihrem Land eine neutrale, international geachtete Stellung gesichert. Sie hat auch die Probleme des Analphabetismus und der Armut auf dem Land erkannt und bekämpft, aber in der Wirtschaftspolitik war sie gefangen in den pseudo-sozialistischen Ideen ihres Vaters. Die Ökonomie blieb weitgehend gelähmt. Spötter erfanden das Wort von der »Hindu-Wachstumsrate«, wahlweise auch »Rikscha-Wachstumsrate« – ein Plus pro Jahr, weit unter 5 Prozent. Und das blieb so in den späten Achtzigerjahren, in Zeiten, da die Volksrepublik China dank der Öffnung Richtung Privatwirtschaft regelmäßig zweistellig wuchs.
    Rajiv Gandhi gab sich als unbestechlicher Modernisierer (»Mister Clean« war sein Spitzname), als liberal in der Innenpolitik, gemäßigt nach außen, aber entscheidende Weichenstellungen konnte er nicht vornehmen. Am 21. Mai 1991 fiel auch er einem Attentat zum Opfer. Die südindischen Terroristen wollten seinen Versöhnungskurs mit Sri Lanka torpedieren. Sonia Gandhi, die ihrem Mann oft beratend zur Seite gestanden hatte, zog sich ganz aus der Politik zurück, sie brauchte Zeit zum Nachdenken über ihre künftige Rolle. Sie wusste, dass ihr fehlerhaftes Hindi von vielen verspottet wurde, dass sie als »Ausländerin« manchen suspekt war – und Sohn Rahul wie Tochter Priyanka waren ohnehin noch zu jung, um die Dynastie fortführen zu können.
    Als Übergangspremier kam Narasimha Rao an die Macht, ein über siebzigjähriger blasser Parteisoldat, der mehrfache Bypass-Operationen hinter sich hatte. Indien stöhnte auf. Keiner erwartete von dem neuen Alten irgendwelche entscheidenden Fortschritte. Doch Rao holte sich einen ebenso brillanten wie sachkundigen und uncharismatischen Finanzminister ins Kabinett, der schon bald Indiens Wirtschaftssystem entscheidend umkrempeln sollte. Manmohan Singh, der heutige Premier, leistete Sensationelles. Seine Wirtschaftsreformen sind in der Tragweite nur mit denen von Deng Xiaoping in China zu vergleichen (kamen allerdings über ein Jahrzehnt später). Die Wahrheit ist aber auch: Er hatte gar keine Wahl. Im Sommer 1991 war das Land de facto pleite, es drohten im wahrsten Sinne des Wortes die Lichter auszugehen. Die Inflation lag bei 17 Prozent, auf dem Schwarzmarkt war die Rupie um ein Viertel gegenüber dem Dollar gefallen, die Devisen reichten gerade noch für die Importe von zwei Wochen. Nur gegen die Verpfändung der indischen Goldreserven waren westliche Kreditgeber überhaupt bereit, dringend benötigte Kredite zu vergeben. Sie bestanden darauf, dass das Edelmetall nach London ausgeflogen wurde. Bei der Nacht-und-Nebel-Aktion blieben dann auch noch die Goldtransporter auf offener Straße liegen – nichts hätte treffender den drohenden Untergang symbolisieren können. Singh senkte die Zölle drastisch und erlaubte ausländischen Investoren in fast allen Bereichen – mit der Ausnahme einiger weniger Schlüsselindustrien –, Aktienmehrheiten von Firmen zu erwerben. Die Rupie wurde abgewertet und für Handelstransaktionen konvertibel gemacht. Der Regulierungswahn wurde zurückgefahren, die Börse durfte sich dem internationalen Computerhandel öffnen.
    Die Folgen waren dramatisch. Innerhalb weniger Monate ging es bergauf. Ausländisches Kapital strömte ins Land, die Industrieproduktion stieg rapide, die Devisenreserven nahmen innerhalb von zwei Jahren von knapp einer Milliarde Dollar auf 20 Milliarden zu. Dennoch waren manche westliche Ökonomen der Meinung, die Reformen seien nicht weitreichend genug gewesen. Sie übersahen, dass Rao und Singh damals ihrem Land keine neoliberale Schocktherapie verordnen wollten. Sie

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