Die neuen Weltwunder - In 20 Bauten durch die Weltgeschichte
hundertneunzig Metern Breite – als wäre es das Urmeer, auf dem die vier Kontinente schwimmen, symbolisiert durch die vier niedrigeren Türme, die den mittleren Tempelturm im Rechteck angeordnet umstehen. Der zentrale Turm, der »Burgfried« sozusagen, ist stattliche 65 Meter hoch. Die fünf Tempelberge zusammen stehen für den Berg Meru mit seinen fünf Gipfeln. Alle fünf Türme sind Lotosblüten nachgeahmt – in Asien Symbol für Reinheit und Erleuchtung. Vielleicht gehört zum Konzept auch die den Sakralbezirk umgebende Stadt, in deren Zentrum sich der Götterberg erhebt, so wie der König inmitten seiner Untertanen steht und ihnen gleichzeitig weit entrückt ist.
Die Anlage von Angkor Wat besteht aus mehreren konzentrisch angelegten Galerien rund um den höchsten Lotosturm als Mittelpunkt. Nähert man sich dem Wahrzeichen Kambodschas von Westen, so führt zunächst eine Brücke über den breiten Wassergraben, und man durchquert auf einem breiten Zugangsweg baumbestandene Parkanlagen. Über eine Treppe geht es auf eine Terrasse und zum Haupteingang der äußeren Galerie, die rundherum mit den berühmten Reliefs geschmückt ist. In den beiden Ecken der Westseite gleich hinter den Mauern stehen Eckpavillons, die ebenfalls mit Reliefs verziert sind. Um zum Innersten des Tempels zu gelangen, muss man zwei weitere Einfriedungen überwinden und weitere Treppenstufen zu weiteren Terrassen hinaufsteigen.
Nicht nur auf Kriege verwendete der Khmer-Herrscher viel Zeit, auch der Bau von Angkor Wat dauerte seine Zeit. Die Arbeiten für das größte sakrale Bauwerk der Erde begannen bald nach Suryavarmans Regierungsantritt und dauerten rund dreißig Jahre. Aber nicht allein seine schiere Größe, sondern auch die architektonische Komposition und die künstlerisch ungemein hochwertige Ausführung reihen Angkor Wat in die großen Bauwerke der Menschheitsgeschichte ein. Reichlich mythologisches und historisches Anschauungsmaterial bieten die zahlreichen Reliefs – deren Motive hinsichtlich einer beabsichtigten Gesamtaussage natürlich mit Bedacht ausgewählt wurden.
Steinreliefs kambodschanischer Tempel liefern wertvolle Hinweise auf Geschichte, Religion und Denkweise der Khmer zur Zeit des Reichs von Angkor. Manche sind einfach und unspektakulär, andere dagegen imposant und verschwenderisch wie die Friese von Angkor Wat, die zwei Meter breit und mehrere Hundert Meter lang sind. Sie lassen sich, jedenfalls mit der notwendigen Kenntnis des mythologischen und historischen Hintergrunds beziehungsweise sachkundigen Erläuterungen, fast wie eine Bildergeschichte lesen, eine Art Comic der Khmer. Ein hintersinniger Comic allerdings, den man auf verschiedenen Deutungsebenen verstehen kann. Wo es um historische Parallelen geht, wird mit einem religiösen Bezug gern eine Erhöhung oder Wertung vorgenommen. So zeigt die Westgalerie des Angkor Wat Schlachtszenen aus der indischen Mythologie, in denen ein Zeitgenosse des königlichen Bauherrn den Bezug zu dessen militärischen Triumphen kaum übersehen konnte. Und die Tatsache, dass der Legende nach in der mythischen Schlacht ein Gott den Guten zu Hilfe kam, wertet naturgemäß die Siege Suryavarmans merklich auf. Die Bedeutung solcher Darstellungen war offenbar so groß, dass man sie mit allergrößter Sorgfalt ausarbeitete und mit höchstem künstlerischen Anspruch überragende Kunstwerke schuf.
Eine auf den Reliefs von insgesamt über zweitausend Quadratmetern Größe meisterhaft dargebotene Geschichte war bei den Kambodschanern (und darüber hinaus) ebenso bekannt wie beliebt, und der Bauherr Suryavarman dürfte auf diese Beliebtheit abgezielt haben, um sich mit dem populären Helden auf eine Stufe zu stellen. Es handelt sich um die Ramayana-Sage, die Geschichte des Prinzen Rama, für Indien bis heute ein Nationalepos. Das damals schon viele Jahrhunderte alte Epos berichtet von den Abenteuern Ramas, dem zunächst trotz seiner Fähigkeiten der Thron vorenthalten wird und der kurzweilige Schicksalsprüfungen zu bestehen hat, bis er endlich König werden kann. Andere Reliefs erzählen von der hinduistischen Götterwelt und ihren Sagen.
An die Maßstäbe, die Angkor Wat gesetzt hatte, kamen die Bauprojekte der nachfolgenden Herrscher nicht mehr heran. Selbst zur Zeit seiner größten Machtausdehnung, als unter König Jayavarman VII . Ende des 12 . und Anfang des 13 . Jahrhunderts Kambodscha Südostasien politisch unangefochten dominierte, erreichten die königlichen Bauwerke nicht
Weitere Kostenlose Bücher