Die Neunte Gewalt
schmerzt mich, das sagen zu müssen, aber ich habe mehr von ihm gelernt als von jedem anderen, unter dem ich studiert habe.« Fields hielt inne. »Ich habe gelesen, daß er einen IQ von über zweihundert hat. Wie viele verschiedene Identitäten hatte er? Vier, nicht wahr?«
»Wir wissen von mindestens fünf. Wahrscheinlich hatte er noch eine oder zwei mehr.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil ich alle Personen fand, die zu sein er vorgab, aber niemals den wahren Leeds selbst.«
Ryan Fields sah zur Wanduhr hoch. »Ich muß in einer halben Stunde in der Klinik sein. Bitte, setzen Sie sich doch.« Der Fährmann tat wie geheißen, und Fields fuhr fort: »Worum genau geht es, Mr. Kimberlain? Sie haben sich am Telefon nicht besonders klar ausgedrückt.«
»Leeds ist vor drei Tagen aus dem Sanatorium entkommen.«
Ryan Fields riß überrascht die Augen auf. »Das wußte ich nicht. Ich habe nichts davon gelesen …«
»Es wurde vor der Presse geheimgehalten. Es wäre sinnlos, eine Panik auszulösen. Wenn wir Glück haben, ist er wieder in Gewahrsam, bevor irgend jemand etwas mitbekommen hat«, fügte Kimberlain hinzu und versuchte, überzeugend zu klingen.
»Und wenn nicht?«
»Ich bin hier, um dafür zu sorgen. Ich suche nach Hinweisen auf die Identität, die wir nicht ermitteln konnten. Wenn ich herausfinde, was seine anderen Identitäten verbindet, habe ich einen Anfang.«
Fields räusperte sich. »Was genau wollen Sie von mir?«
»Mich interessiert hauptsächlich der Eindruck, den Sie von ihm gewonnen haben. Von allen Menschen, mit denen ich noch sprechen werde, haben Sie wahrscheinlich mehr Zeit allein mit Leeds verbracht als irgendwer sonst.«
Fields unterdrückte ein Schaudern und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wir haben uns oft unterhalten. Sein Büro lag diesem hier direkt gegenüber. Eigentlich hat fast nur er gesprochen.«
»Worüber?«
»Über alles mögliche. Was sein Wissen betrifft, war er ein bemerkenswerter Mensch. Viele unserer Gespräche waren rein fachgebunden. Ein paar andere … na ja …«
»Fahren Sie fort.«
»Er hatte gewisse Ideen, Vorstellungen darüber, daß die Gesellschaft untergehen würde, wenn sie den eingeschlagenen Weg nicht korrigierte.«
»Es kam Ihnen nicht seltsam vor, daß ein Professor für forensische Pathologie über solche Themen sprach?«
»Nein, denn er hatte offensichtlich viel Spaß an seinen Ausführungen. Meistens hörte ich ihm kaum zu. Manchmal aber doch, und dann wurde mir sehr schnell unbehaglich.«
»Inwiefern?«
Fields schien nach den richtigen Worten zu suchen, um seine Eindrücke beschreiben zu können. »Na ja, er kam immer wieder darauf zurück, daß in den USA vielleicht alles genau verkehrt herum läuft. Vielleicht sollten die Verrückten und die verurteilten Straftäter freigelassen und alle anderen eingesperrt werden. Denn was könnte sicherer sein, da wir doch versuchen, sie von unserer Welt fernzuhalten? Dann würden sie ein- und nicht mehr ausbrechen.«
»Fahren Sie fort.«
»Ich gestand ein, daß dieses Argument über eine gewisse Stichhaltigkeit verfügte, doch Andrews – Leeds – trieb die Sache noch weiter. Er fragte immer wieder, was passieren würde, wenn nur noch die Armen, die Verrückten und die moralisch Verderbten übrigblieben. Er hatte alle möglichen Theorien, wie die Welt dann aussehen und wieso sie besser sein würde. Er schlug vor, ich solle meine Doktorarbeit darüber schreiben, und hatte sogar schon einen Titel dafür: ›Die neunte Gewalt.‹«
»Was soll das bedeuten?«
»Anscheinend hatte er eine Theorie, daß schon achtmal in der Geschichte große Persönlichkeiten versucht hatten, die Welt zu beherrschen, aber jedesmal gescheitert waren.« Fields blickte durch die noch immer geöffnete Tür zum gegenüberliegenden Büro hinüber, das man nicht mehr besetzt hatte, nachdem die Wahrheit über Professor Alfred Andrews bekanntgeworden war. »Ich erinnere mich noch genau, wie wir dort saßen und er mir erklärte, was alles schiefgegangen sei.«
Die Gedanken des Fährmanns schweiften ab. Leeds' Geruch war hier so stark, daß er sich fragte, ob er sich vielleicht in seinem ehemaligen Büro versteckt hatte und sie belauschte. »Was hat das alles mit Verrückten und Kriminellen zu tun?«
»Ihm zufolge ging es dabei um die Reinheit. Verrückte und Verbrecher seien die einzigen reinen Menschen, da sie keine Angst hätten, sich völlig frei auszudrücken. Nichts hielte sie zurück. Sie stellen sich
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