Die Neunte Gewalt
Gegenstand benutzt wird, der von zahlreichen Menschen berührt wird?«
Hanley zuckte die Achseln. »Wenn man damit jede Türklinke besprüht … Nein, angesichts der Beschränkungen des Toxins begreife ich nicht, warum jemand das alles auf sich nimmt, um solch ein Gift zu bekommen.«
»Aber jemand hat es getan.«
»Ihre Leute …«
»Nur als Mittelsmänner, als Soldaten im Dienst eines anderen. Des Mannes, der Christopher entführt hat.« Sie hielt inne. »Genau wie ich.«
»Sie hätten ihnen Christopher ausliefern können und haben es nicht getan. Die Leute hätten ihn getötet, nicht wahr?«
»Das kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Ob Sie noch irgendeinen Wert für sie haben.«
»Die Produktion des Toxins wurde vor neun Tagen abgeschlossen.«
Hedda nickte. »Dann hätten diese Leute Sie beide getötet, und zwar bei Christophers Rückgabe.«
»Mein Gott, was für Menschen sind das nur?« fragte Hanley mit zitternden Lippen.
»Menschen, für die Sie Ihr TD-13 produziert haben, Dr. Hanley. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was diese Leute damit vorhaben.«
10
Es gab keinen bestimmten Ort, der sich für den Beginn der Suche anbot, auf die Peet ihn geschickt hatte. Am ehesten konnte Kimberlain es noch mit der Brown University versuchen, an der Leeds unter einer falschen Identität gearbeitet hatte. Als Professor Alfred Andrews hatte er vor den Mitgliedern eines Kurses über forensische Pathologie eine Autopsie an einer lebendigen Studentin vorgenommen, die er selbst einmal unterrichtet hatte. Darüber hinaus waren in dem Jahr, an dem Leeds an der Universität unterrichtet hatte, fünf weitere Studenten verschwunden oder ermordet worden oder hatten angeblich Selbstmord begangen. Keiner dieser Fälle konnte eindeutig mit Leeds in Verbindung gebracht werden, doch ein Zusammenhang war unbestreitbar, zumindest nach Kimberlains Auffassung.
Die fast vierstündige Fahrt nach Providence verbrachte er mit Leeds als Reisegefährten. Er rief sich in Erinnerung, wie er das Ungetüm vor drei Monaten bei der Gerichtsverhandlung beobachtet hatte. Leeds war von durchschnittlicher Größe und ebensolchem Körperbau. Seine dunklen Augen waren verquollen und wirkten vorzeitig gealtert. Er war fünfzig und sah keine Spur jünger aus. Das einzig Auffällige an ihm, an das Kimberlain sich erinnern konnte, war sein Haar. Er hatte es zu einem gräßlichen Pechschwarz getönt, und es sah aus wie Schuhwichse, die unter den hellen Lampen im Gerichtssaal schimmerte.
Als der Fährmann ihn beobachtete, mußte er an Peet und so viele andere denken, deren körperliche Eigenschaften irgendwie genau zu ihrem verdrehten Verstand paßten. Doch Leeds wirkte schwach und schlapp. Was ihn antrieb, kam tief aus seinem Inneren und war dunkel, verderbt und häßlich; eine schleimige, augenlose Schnecke, die sich dort befand, wo die meisten Menschen ihre Seelen hatten.
Kimberlain orientierte sich mit Hilfe einer Straßenkarte, fand die Brown University und stellte den Wagen in einer Parklücke vor einem Zaun im Schatten eines großen, im Bau befindlichen Studentenwohnheims ab. Die Kälte ließ ihn frösteln, und er erkannte, daß er für das hiesige Wetter falsch gekleidet war. Er folgte den Hinweisschildern zum Büro von Dr. Ryan Fields. Fields, mittlerweile Assistenzprofessor, hatte Jahre zuvor unter Leeds alias Alfred Andrews studiert. Fields' Büro befand sich im zweiten Stock der biologisch-medizinischen Fakultät. Als Kimberlain an die offenstehende Tür klopfte, las Fields gerade Laborberichte seiner Studenten des Sommersemesters.
»Dr. Fields?«
Der Professor erhob sich und nahm die Brille ab. Er mußte jetzt Anfang Dreißig sein, sah aber zehn Jahre älter aus. Die Mitte seines Schädels war bereits kahl. Seine Augen wirkten müde und leblos.
»Nennen Sie mich bitte Ryan. Ich nehme an, Sie sind Kimberlain.«
Der Fährmann ging zum Schreibtisch und gab Fields die Hand. »Danke, daß Sie mich so kurzfristig empfangen, und das auch noch an einem Samstag.«
Fields nahm langsam wieder Platz. »Sie sind schließlich derjenige, der Alfred Andrews geschnappt hat.«
»Andrew Harrison Leeds«, korrigierte Kimberlain.
»Er hat aus seinem Vornamen den Nachnamen gemacht. Ist das ein übliches Vorgehen bei ihnen?«
»Bei wem?«
»Serienmördern. Verrückten.«
»Halten Sie Leeds für verrückt?«
»Sie nicht?«
»Ich bin hergekommen, um das von Ihnen zu erfahren.«
»Ich hielt ihn damals für einen hervorragenden Hochschullehrer. Es
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