Die Neunte Gewalt
nickte, während Vogelhut völlig verwirrt stammelte: »Das … das ist einfach … nicht möglich.«
»Ich habe Leeds nur erwischt, weil er es so wollte, Herr Doktor. Weil er wollte, daß ich ihn schnappe, weil er wußte, daß er« – Kimberlain drehte sich zu der festungsähnlichen Anstalt um – »hierher kommen würde.«
»Damit er wieder fliehen konnte?«
»Mit den anderen. Er wollte sie herausholen. Es war die einzige Möglichkeit.«
»Aber weshalb? Was steckt dahinter?«
Kimberlain sah Vogelhut an. »Ich weiß es auch nicht, Herr Doktor.«
Aber er wußte es. Er war sich nun dessen sicher, was er vorher nur vermutet hatte.
Die neunte Gewalt …
Für Andrew Harrison Leeds war es nicht nur eine verrückte Vision; zumindest jetzt nicht mehr.
Kimberlain ließ den Captain alle verfügbaren Videoaufnahmen von Leeds in seiner Zelle zusammenschneiden, um sie sich anzusehen. Dieses Band hatte eine Länge von fünfundvierzig Minuten, und der Fährmann sah es sich jetzt zum vierten Mal an. Die Bilder waren stumm, doch beim dritten Betrachten fügte er im Geiste den Ton hinzu. Ein kratzendes Geräusch, wenn Leeds sich den Kopf rieb. Ein leises Quietschen, wenn er sich auf seinem Bett umdrehte. Ein tiefes Zischen, wenn er zur Kamera hochsah und seine Zähne zu einem wölfischen Schnauben entblößte.
Leeds war in keiner Hinsicht ein großer Mann, doch Kimberlain mußte sich dies ständig in Erinnerung zurückrufen, während das Band vor ihm ablief. Es war, als griffe der Verrückte über den Kamerabereich hinaus, um dem Betrachter zu zeigen, was er ihn sehen lassen wollte. Oder der Betrachter wurde vielleicht von der Größe der Absichten Leeds beeinflußt, der Bandbreite des Bösen, das in ihm wohnte. Wenn man Größe an Taten und Absichten messen konnte, wäre keine Zelle in ›The Locks‹ groß genug gewesen, um ihn aufzunehmen.
Die schwarzweiße Aufnahme betonte Leeds' bleiche, farblose Gesichtszüge. Sein Haar war pechschwarz und glatt zurückgekämmt. Die Brauen waren buschig und weiß gesprenkelt. Sein Gesicht war hager, fast skeletthaft, mit tief eingesunkenen Augen, den Augen einer Leiche. Sie schienen auch schwarz zu sein, doch Kimberlain wußte, daß sie in Wirklichkeit dunkelbraun waren. Leeds trug – wie alle Häftlinge in ›The Locks‹ – die übliche weiße Montur. Er hatte die Hemdsärmel hochgerollt und enthüllte zwei sehnige Unterarme und lange, sanfte Hände, die weich wie die eines Babys zu sein schienen.
Auf keinem einzigen Bild enthüllte Andrew Harrison Leeds sich wirklich der Kamera. Er war ein Showman, der ständig auf der Bühne weilte, weil er wußte, daß ihn jederzeit jemand beobachten konnte. Der Fährmann betrachtete die Videoaufnahme und wartete darauf, daß Leeds' Wachsamkeit für einen Augenblick nachließ und er einen Blick auf dessen wahres Selbst erhaschen konnte. Kimberlain wollte und mußte ihn verstehen. Doch Leeds enthüllte der Kamera zu keinem Augenblick die Wahrheit. Er hatte nicht nur eine andere Persönlichkeit angenommen, er ging völlig in ihr auf. Seine verschiedenen Identitäten mußten wie die Hotelzimmer eines Handlungsreisenden gewesen sein – oder noch immer so sein: er nahm dasjenige, das ihm gerade am angenehmsten und bequemsten war.
»Ein Anruf, Mr. Kimberlain.«
Als er die Stimme von Vogelhuts Sekretärin hörte, fuhr er abrupt vom Stuhl hoch. Erschrocken schlug die Frau die Hand vor den Mund. »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht … Aber da ruft jemand für Sie an. Ich habe es über die Gegensprechanlage versucht, aber …«
»Danke«, sagte der Fährmann und griff nach dem Hörer, als sie ging.
»Kimberlain.«
»Talley.«
»Wie stehen die Dinge in Daisy?«
»Sie haben recht gehabt«, sagte sie. »Tiny Tim hat bei dem Fenster einen Saugnapf benutzt. Wir haben bereits seine Blutgruppe festgestellt und hoffen, daß die weiteren Untersuchungen des Sekrets noch mehr ergeben werden. Ich habe auch einen Gerichtsbeschluß zur Exhumierung der verbrannten Überreste der Opfer aus Dixon Springs erwirkt. Wir können sie also auf Verstümmelungen hin untersuchen, genau, wie Sie es gesagt haben.«
»Aber deshalb haben Sie nicht angerufen.«
»Nein.«
»Dann also Neuigkeiten aus Providence, wie ich hoffe.«
»Washington hat die Leiche des Mannes identifiziert, der Ihnen dort aufgelauert hat. Ein gewisser Donald Dwares. Er hat in Miami fünf Lehrer getötet und wurde zum Tode verurteilt.«
»Da komme ich nicht ganz mit,
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