Die Neunte Gewalt
erschauderte unweigerlich bei dem Gedanken, daß jemand – jeder – sie in diesem Augenblick durch dieses Fenster beobachten konnte.
Der alte Mann richtete den Blick auf die Tür. »Es wäre viel einfacher, wenn du jetzt gingest, Hedda«, sagte er. »Nicht um meinet-, sondern um deinetwillen. Du mußt mir das glauben. Höre zu, was ich zu sagen habe, und du wirst diese Wohnung als anderer Mensch verlassen. Als Mensch, von dem du gar nicht gewußt hast, daß es ihn überhaupt gibt.«
Ein Frösteln lief ihr über den Rücken. »Ich will die Wahrheit hören.«
»Vergiß die Wahrheit. Ich habe dir doch gesagt, es gibt sie nicht. Die Wahrheit ist eine Illusion, die wir schaffen, ein Mythos, auf dem wir beharren, damit wir uns sogar in der normalen Welt zum Narren halten können. Religion, Spiritualismus, Bedürfnisse, unser Wollen – sieh dir das alles an. Die Wahrheit ist nicht das, was wir sehen, sondern das, was für uns geschaffen wird, um den Schmerz zu lindern, der daher rührt, daß wir in einem Vakuum existieren.«
»Wie das, in dem ich existiert habe, meinst du.«
»Nein!« beharrte er. »Niemals! Die Wahrheit war für dich, was sie sein mußte.«
»Aber du warst Teil dieser Wahrheit. Dein Eindruck, dein Bild.«
»Aufrecht gehend. Stark und energisch.«
»Ja! Ja!«
»Meine Wahrheit, wie sie nie wieder sein kann. Wenn ich nie wieder gehen kann, will ich wenigstens in deiner Vorstellung gehen und in der der anderen.«
»Warum? Wer bist du?« wiederholte Hedda.
»Ein Name?«
»Für den Anfang, da du ja irgendwie auch meinen kennst.«
»August Pomeroy.«
Heddas Gesicht wurde ausdruckslos. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört. Ich habe zwar den Eindruck, dich mein Leben lang zu kennen, aber diesen Namen habe ich noch nie gehört.«
»Ich war nur Teil deines Gedächtnisblocks.«
Heddas Knie begannen zu zittern. »Wovon sprichst du?«
»Ich spreche von gewissen Sperren in deinem Verstand, die verhindern sollen, daß du dich bewußt an vergangene Ereignisse erinnerst.«
Sie trat näher an ihn heran, wollte die Worte einfach abtun, wußte aber, daß dies unmöglich war. Vielleicht hatte ihr Unterbewußtsein schon immer gewußt, was ihr Bewußtsein nun erfuhr. »Manchmal tauchen seltsame Gedankenfetzen in mir auf, wie Träume, die mir wieder entgleiten, bevor ich mich an sie erinnern kann.«
»Das liegt an der Blockierung. Etwas, das deinen Verstand tröstet und beruhigt, das eine Alternative zu schmerzvollen realen Erinnerungen darstellt.«
»Das Bild von dir auf dem Hof, als mein Großvater.«
»Aus praktischen Gründen gewählt, sowohl als Ego wie auch als Erweiterung. Soll der Block wirksam sein, muß er wenigstens teilweise in der Wirklichkeit verankert werden. Wenn schon kein tatsächliches Ereignis, dann zumindest eine tatsächliche Person, die wir in eine Illusion umwandeln konnten. Wie ein Schauspieler, der für einen Film vor einem falschen Hintergrund aufgenommen wird. Ich mußte so intensiv mit dir arbeiten, daß ich die logische Wahl für diese Person war.«
»Du behauptest, mein gesamtes Gedächtnis sei eine Lüge. Du behauptest, ich hätte keine Ahnung, wer ich wirklich bin.«
»Dein Leben als Hedda begann vor vier Jahren.«
»Und davor?« Als Pomeroy schwieg, trat Hedda näher an ihn heran. »Und davor?«
August Pomeroy musterte sie für einen Augenblick, bevor er antwortete. »Das ist deine letzte Chance, die Tür hinter dir zu schließen, Hedda. Von jetzt an wird es nur immer mehr Fragen geben, und die Antworten darauf werden zunehmend unangenehmer ausfallen.«
»Ich muß sie hören, Mr. Pomeroy.«
»Doktor Pomeroy. Komm mit in die Küche. Ich mache uns Tee.«
Pomeroy setzte das Wasser selbst auf. Hedda beobachtete ihn dabei; ihre Hände zuckten, und ihre Finger trommelten ungeduldig auf die Platte des dicken Eichentisches.
»Ich bin Psychiater«, sagte der alte Mann, als er mit dem Rollstuhl zum Tisch fuhr. »Viele Jahre lang wurde ich in meinem Fach respektiert und galt als Kapazität auf meinem Spezialgebiet.«
»Erinnerungen?«
»Nicht ganz. Schmerz; wenn das Leben einer Person durch Schuldgefühle oder Bedauern wegen eines besonderen Ereignisses ruiniert wurde, vielleicht wegen einer falschen Entscheidung oder des Verlustes eines geliebten Menschen, ich widmete mein Leben der Aufgabe, diesen Schmerz zu lindern, ihn abzumildern und die betreffende Person zu heilen, wie ein Chirurg vielleicht ein gebrochenes Bein oder ein zertrümmertes Knie wiederherstellt. Ich
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