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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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schuld bin. Vielleicht ist das das Projekt, das du brauchst, um wieder schreiben zu können.»
    Ich hatte insgeheim gehofft, dass Sophie die Entscheidung für mich fällen würde; ich hatte angenommen, sie würde dagegen sein und wir würden einmal darüber sprechen, und das wäre dann das Ende. Aber genau das Gegenteil war geschehen. Ich hatte mich in die Ecke drängen lassen, und plötzlich fehlte mir der Mut. Ich ließ einige Tage verstreichen, und dann rief ich Stuart an und sagte ihm, ich würde das Buch machen. Das brachte mir wieder ein kostenloses Mittagessen ein, und danach war ich mir selbst überlassen.

    Es kam nicht in Frage, die Wahrheit zu sagen. Fanshawe musste tot sein, oder das Buch hatte keinen Sinn. Ich musste nicht nur den Brief weglassen, ich musste so tun, als wäre er nie geschrieben worden. Ich sage ehrlich, was ich plante. Es war mir von Anfang an klar, und ich stürzte mich mit Falschheit im Herzen hinein. Das Buch war reine Erdichtung. Obwohl es auf Tatsachen beruhte, konnte es nichts als Lügen erzählen. Ich unterschrieb den Vertrag, und dann fühlte ich mich wie ein Mann, der seine Seele dem Teufel verschrieben hatte.
    Ich ließ meine Gedanken mehrere Wochen lang schweifen und suchte nach einem Anfang. Jedes Leben ist unerklärlich, sagte ich mir immer wieder. Gleich, wie viele Fakten wiedergegeben, gleich, wie viele Einzelheiten angeführt werden, das Wesentliche widersetzt sich dem Erzählen. Dass Soundso hier geboren wurde und dorthin ging, dass er dies und das tat, dass er diese Frau heiratete und diese Kinder hatte, dass er lebte, dass er starb, dass er diese Bücher oder diese Schlacht oder jene Brücke hinterließ – das alles sagt uns nicht sehr viel. Wir alle wollen, dass man uns Geschichten erzählt, und wir hören sie so, wie wir sie hörten, als wir Kinder waren. Wir stellen uns die wahre Geschichte vor, und dazu setzen wir uns selbst an die Stelle der Person in der Geschichte und geben vor, sie zu verstehen, weil wir uns selbst verstehen. Das ist eine Täuschung. Wir existieren vielleicht für uns selbst, und bisweilen haben wir sogar eine Ahnung davon, wer wir sind, aber zuletzt können wir nie sicher sein, und während unser Leben weitergeht, werden wir für uns selbst immer undurchsichtiger, werden wir uns unserer eigenen Zusammenhanglosigkeit immer mehr bewusst. Niemand kann die Grenze zu einem anderen überschreiten – aus dem einfachen Grunde, weil niemand Zugang zu sich selbst gewinnen kann.
    Ich dachte an eine Geschichte zurück, die ich vor acht Jahren erlebt hatte, im Juni 1970. Da ich kein Geld hatte und für den Sommer auch keines zu erwarten war, nahm ich eine vorübergehende Arbeit als Volkszähler in Harlem an. Wir waren eine Gruppe von etwa zwanzig Personen, ein Kommandocorps von Interviewern, das eingesetzt wurde, um die Leute zu erfassen, die die mit der Post zugestellten Fragebogen nicht beantwortet hatten. Wir wurden in einem staubigen Speicher im ersten Stock gegenüber dem Apollo Theater mehrere Tage lang eingeschult, und sobald wir die kniffligen Formulare verstanden hatten und die Grundregeln des Umgangs als Volkszähler beherrschten, wurden wir mit unseren roten, weißen und blauen Taschen in das Viertel geschickt, um an Türen zu klopfen, Fragen zu stellen und mit den Fakten zurückzukehren. Der erste Ort, den ich aufsuchte, war eine Lotto-Zentrale. Die Tür ging einen Spaltbreit auf, ein Kopf erschien (dahinter sah ich ein Dutzend Männer in einem kahlen Raum an langen Tischen schreiben), und man sagte mir höflich, dass man nicht interessiert sei. Das schien den Ton für alles weitere anzugeben. In einer Wohnung sprach ich mit einer fast blinden Frau, deren Eltern noch Sklaven gewesen waren. Als das Interview schon zwanzig Minuten gedauert hatte, dämmerte ihr, dass ich kein Schwarzer war, und sie begann gackernd zu lachen. Sie habe es schon die ganze Zeit vermutet, sagte sie, weil meine Stimme so komisch klinge, aber sie habe es nicht glauben können. Ich sei der erste Weiße, der je ihr Haus betreten habe. In einer anderen Wohnung stieß ich auf einen Haushalt mit elf Personen, keine älter als zweiundzwanzig. Aber meistens war niemand da. Und wenn die Leute zu Hause waren, wollten sie nicht mit mir sprechen oder mich eintreten lassen. Der Sommer kam, und die Straßen wurden heiß und feucht, so unerträglich, wie sie nur in New York sein können. Ich begann meine Runden schon früh, stolperte von Haus zu Haus und fühlte mich immer mehr wie

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