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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ein Mann vom Mond. Schließlich wandte ich mich an unseren Leiter (einen schnell sprechenden Schwarzen, der breite Seidenkrawatten und einen Saphirring trug) und erklärte ihm mein Problem. Da erfuhr ich, was eigentlich von mir erwartet wurde. Dieser Mann bekam einen bestimmten Betrag für jedes Formular, das ein Mitglied seiner Mannschaft abgab. Je besser unsere Ergebnisse waren, desto mehr Geld floss in seine Tasche. «Ich werde Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen», sagte er, «aber mir scheint, wenn Sie es ehrlich versucht haben, brauchen Sie sich nicht so schlecht zu fühlen.»
    «Soll ich einfach aufgeben?», fragte ich.
    «Andererseits», fuhr er philosophisch fort, «will die Regierung ausgefüllte Formulare haben. Je mehr Formulare sie bekommt, desto zufriedener ist sie. Ich weiß, Sie sind ein intelligenter Junge, und ich weiß, Sie kriegen nicht fünf heraus, wenn Sie zwei und zwei zusammenzählen. Dass eine Tür nicht aufgeht, wenn Sie daran klopfen, bedeutet ja nicht, dass niemand da ist. Sie müssen Ihre Phantasie gebrauchen, mein Freund. Schließlich wollen wir doch nicht, dass die Regierung unglücklich ist, oder?»
    Danach wurde die Arbeit beträchtlich leichter, aber sie war nicht mehr dieselbe. Meine Feldarbeit verwandelte sich in Schreibtischarbeit, und statt eines Interviewers war ich nun ein Erfinder. Alle ein oder zwei Tage ging ich ins Büro, um mir einen neuen Stoß Formulare zu holen und die fertigen abzuliefern, aber sonst brauchte ich meine Wohnung nicht zu verlassen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen ich erfand – aber es müssen Hunderte, vielleicht Tausende gewesen sein. Ich saß in meinem Zimmer, der Ventilator blies mir ins Gesicht, ich hatte mir ein kaltes Handtuch um den Hals gewickelt, und so füllte ich Formulare aus, so schnell meine Hand schreiben konnte. Ich verlegte mich auf große Haushalte – sechs, acht, zehn Kinder – und setzte meinen Stolz darein, seltsame und komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse auszuhecken, indem ich alle möglichen Kombinationen ausschöpfte: Eltern, Kinder, Cousins, Onkel, Tanten, Großeltern, Lebensgefährten, Stiefkinder, Halbbrüder, Halbschwestern und Freunde. Das größte Vergnügen war es, Namen zu erfinden. Manchmal musste ich meine Neigung für das Ausgefallene – für das Komische, das Wortspiel, das Anzügliche – unterdrücken, aber meistens war ich damit zufrieden, die Grenzen des Vorstellbaren einzuhalten. Wenn meine Phantasie versagte, gab es gewisse mechanische Kunstgriffe, zu denen ich Zuflucht nehmen konnte: die Farben (Brown, White, Black, Green, Gray, Blue), die Präsidenten (Washington, Adams, Jefferson, Fillmore, Pierce), Romanfiguren (Finn, Starbuck, Dimmsdale, Budd). Ich liebte Namen, die mit dem Himmel verbunden waren (Orville Wright, Amelia Earhart), mit stillem Humor (Keaton, Langdon, Lloyd), mit langen Läufen beim Baseball (Killebrew, Mantle, Mays) und mit Musik (Schubert, Ives, Armstrong). Gelegentlich holte ich die Namen von entfernten Verwandten oder alten Schulfreunden hervor, und einmal verwendete ich sogar ein Anagramm meines eigenen Namens.
    Es war kindisch, das zu tun, aber ich hatte keine Gewissensbisse. Es war auch nicht schwer zu rechtfertigen. Der Leiter würde nichts dagegen haben; die Leute, die tatsächlich die angegebenen Adressen hatten, würden nichts dagegen haben (sie wollten nicht belästigt werden, vor allem nicht von einem weißen jungen Mann, der die Nase in ihre persönlichen Angelegenheiten steckte); und die Regierung würde nichts dagegen haben, denn was sie nicht wusste, konnte ihr nichts antun und sicherlich nicht mehr, als sie sich selbst schon antat. Ich ging sogar so weit, meine Vorliebe für große Familien politisch zu rechtfertigen: Je größer die arme Bevölkerung war, desto mehr würde sich die Regierung verpflichtet fühlen, Geld für sie auszugeben. Es war der Schwindel mit den «toten Seelen» auf Amerikanisch, und mein Gewissen war rein.
    Das war die eine Seite. Aber im Grunde hatte ich ganz einfach meinen Spaß daran, Namen aus der Luft zu greifen, Menschen zu erfinden, die nie existiert hatten und nie existieren würden. Es war nicht genau dasselbe, wie sich Figuren in einer Geschichte auszudenken, sondern großartiger und weit beunruhigender. Jeder weiß, dass Geschichten Phantasiegebilde sind. Was für eine Wirkung sie immer auf uns haben, wir wissen, dass sie nicht wahr sind, auch wenn sie uns Wahrheiten sagen, die wichtiger sind als die, die wir anderswo finden.

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