Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen
italienische Professor an dieser Universität gewesen war. Das eine schien mit dem anderen nicht vereinbar zu sein, und daher nahm ich mir vor, der Sache nachzugehen, weil ich neugierig war, wie ein Mann zwei so verschiedene Leben führen konnte. Es stellte sich heraus, dass Da Ponte fünf oder sechs verschiedene Leben gehabt hatte. Er wurde 1749 als Emmanuele Conegliano, Sohn eines jüdischen Lederhändlers, geboren. Nach dem Tod seiner Mutter heiratete sein Vater ein zweites Mal, und zwar eine Katholikin, und beschloss, sich und seine Kinder taufen zu lassen. Der junge Emmanuele hatte das Zeug zu einem Gelehrten, und als er vierzehn war, nahm ihn der Bischof von Cenada (Monsignore Da Ponte) unter seine Fittiche und trug die Kosten seiner Erziehung zum Priester. Wie es damals Brauch war, nahm der Schüler den Namen seines Wohltäters an. Da Ponte empfing 1773 die Weihen und wurde Seminarlehrer mit einem besonderen Interesse an lateinischer, italienischer und französischer Literatur. Er wurde nicht nur ein Anhänger der Aufklärung, sondern ließ sich auch auf einige verwickelte Liebesaffären ein, hatte ein Verhältnis mit einer venezianischen Adeligen und zeugte heimlich ein Kind. Im Jahre 1776 förderte er eine öffentliche Debatte am Seminar in Treviso, die die Frage behandelte, ob es der Zivilisation gelungen sei, die Menschheit glücklicher zu machen. Wegen dieses Verstoßes gegen die Prinzipien der Kirche musste er fliehen – zuerst nach Venedig, dann nach Görz und zuletzt nach Dresden, wo er seine neue Karriere als Librettist begann. Im Jahre 1782 fuhr er mit einem Empfehlungsschreiben an Salieri nach Wien und wurde schließlich zum «Poeta dei teatri imperiali» ernannt, was er beinahe zehn Jahre lang blieb. Während dieser Zeit begegnete er Mozart und arbeitete mit ihm an den drei Opern, die seinen Namen vor der Vergessenheit bewahrten. Als Leopold II. jedoch 1790 das musikalische Leben in Wien wegen des Türkenkrieges einschränkte, verlor Da Ponte seine Stellung. Er ging nach Triest und verliebte sich in eine Engländerin namens Nancy Grahl oder Krahl (der Name ist noch umstritten). Von dort zogen die beiden nach Paris und dann weiter nach London, wo sie dreizehn Jahre lang blieben. Da Pontes musikalische Arbeit beschränkte sich auf einige Libretti für unbekannte Komponisten. Im Jahre 1805 wanderten er und Nancy nach Amerika aus, wo er die letzten dreiunddreißig Jahre seines Lebens verbrachte. Er war eine Zeitlang Krämer in New Jersey und Pennsylvania und starb im Alter von neunundachtzig Jahren – als einer der ersten Italiener, die in der Neuen Welt begraben wurden. Nach und nach hatte sich für ihn alles verändert. Aus dem eleganten Frauenhelden, einem Opportunisten, der in die politischen Intrigen von Kirche und Hof verwickelt war, wurde ein vollkommen gewöhnlicher Bürger von New York, das für ihn 1805 wie das Ende der Welt ausgesehen haben muss. Er war ein hart arbeitender Professor, ein pflichtbewusster Gatte und Vater von vier Kindern. Als eines seiner Kinder starb, heißt es, war er so von Kummer übermannt, dass er sich beinahe ein Jahr lang weigerte, sein Haus zu verlassen. Das Entscheidende ist, dass zuletzt jedes Leben auf nichts anderes als auf sich selbst zurückgeführt werden kann. Was mit anderen Worten heißt: Das Leben hat keinen Sinn.
Ich will mich nicht des Langen und Breiten darüber auslassen. Aber die Umstände, unter denen ein Leben seinen Kurs wechselt, sind so vielfältig, dass es unmöglich erscheint, etwas über einen Menschen zu sagen, bevor er tot ist. Nicht nur ist der Tod der wahre Schiedsrichter des Glücks (wie Solon sagte), er ist auch das einzige Maß, nach dem wir das Leben selbst beurteilen können. Ich kannte einmal einen Landstreicher, der wie ein Shakespeare-Darsteller sprach, einen heruntergekommenen Alkoholiker mittleren Alters, mit Krätze im Gesicht und in Lumpen gekleidet, der auf der Straße schlief und mich ständig um Geld anbettelte. Aber er war einmal Besitzer einer Kunstgalerie in der Madison Avenue gewesen. Und ich kannte einen anderen Mann, der einmal als der meistversprechende junge Romanautor Amerikas gegolten hatte. Als ich ihm begegnete, hatte er gerade fünfzehntausend Dollar von seinem Vater geerbt, und er stand an einer Straßenecke in New York und verteilte Hundertdollarscheine an Fremde. Das gehöre zu einem Plan, das ökonomische System der Vereinigten Staaten zu zerstören, erklärte er mir. Man bedenke, was geschehen kann. Man
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