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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Im Gegensatz zum Geschichtenerzähler bot ich meine Schöpfungen direkt der wirklichen Welt an, und daher erschien es mir möglich, dass sie diese wirkliche Welt auf eine wirkliche Weise beeinflussen, dass sie zuletzt ein Teil des Wirklichen selbst werden konnten. Kein Schriftsteller kann mehr als das verlangen.
    All das fiel mir wieder ein, als ich mich hinsetzte, um über Fanshawe zu schreiben. Einmal hatte ich tausend nur in der Phantasie vorhandene Seelen geboren. Nun, acht Jahre später, war ich im Begriff, einen lebenden Menschen zu nehmen und in sein Grab zu legen. Ich war der Hauptleidtragende und der Gemeindepriester bei diesem falschen Begräbnis, und es war meine Aufgabe, die richtigen Worte zu sprechen, zu sagen, was jedermann hören wollte. Die beiden Handlungen waren gegensätzlich und identisch, jede das Spiegelbild der anderen. Aber das tröstete mich kaum. Der erste Betrug war ein Scherz gewesen, nicht mehr als ein jugendliches Abenteuer, während der zweite Betrug ernst war, etwas Dunkles und Erschreckendes. Ich grub ein Grab, und manchmal fragte ich mich, ob es nicht mein eigenes war.
    Das Leben hat keinen Sinn, argumentierte ich. Ein Mann lebt und dann stirbt er, und was dazwischen geschieht, hat keinen Sinn. Ich dachte an die Geschichte von La Chère, einem Soldaten, der an einer der ersten französischen Expeditionen nach Amerika teilnahm. Im Jahre 1562 ließ Jean Ribaut einige Männer in Port Royal (bei Hilton Head, South Carolina) zurück. Sie standen unter dem Kommando von Albert de Pierra, einem Wahnsinnigen, der mit Terror und Gewalt herrschte. «Er erhängte mit seinen eigenen Händen einen Trommler, der sein Missfallen erregt hatte», schreibt Francis Parkman, «und verbannte einen Soldaten namens La Chère auf eine drei Meilen vom Fort entfernte einsame Insel, damit er dort verhungerte.» Albert wurde schließlich bei einem Aufstand seiner Männer ermordet, und der halbtote La Chère wurde von der Insel gerettet. Man sollte meinen, dass La Chère nun sicher war, dass er, nachdem er seine schreckliche Strafe durchgestanden hatte, von weiteren Katastrophen verschont bleiben würde. Aber nichts ist so einfach. Es gibt keine Regeln, die dem Unglück eine Grenze setzen, und in jedem Augenblick beginnen wir von neuem, ebenso reif für den niederträchtigen Schlag, wie wir es zuvor waren. In der Siedlung brach alles zusammen. Die Männer waren nicht in der Lage, es mit der Wildnis aufzunehmen, und Hunger und Heimweh überwältigten sie. Sie boten all ihre Kraft auf und bauten mit behelfsmäßigen Mitteln ein Schiff, «das Robinson Crusoes würdig war», um nach Frankreich zurückzukehren. Auf dem Atlantik traf sie eine neue Katastrophe: sie hatten keinen Wind, und ihre Lebensmittel- und Wasservorräte gingen zu Ende. Die Männer begannen ihre Schuhe und Lederwämser zu essen, manche tranken in ihrer Verzweiflung Meerwasser, und mehrere starben. Dann kam der unvermeidliche Absturz in den Kannibalismus. «Das Los wurde gezogen», schreibt Parkman, «und es fiel auf La Chère, denselben Unglücklichen, den Albert zum Verhungern auf einer einsamen Insel verurteilt hatte. Sie töteten ihn und verteilten sein Fleisch mit heißhungriger Gier. Die abscheuliche Mahlzeit erhielt sie am Leben, bis Land in Sicht kam, und es heißt, dass sie in ihrem Freudentaumel ihr Schiff nicht mehr steuern konnten, sondern mit der Flut treiben ließen. Eine kleine englische Barke lief auf sie zu; die Engländer nahmen sie alle an Bord, und nachdem sie die Schwächsten an Land gesetzt hatten, brachten sie die Übrigen als Gefangene nach Queen Elizabeth.»
    Ich führe La Chère nur als Beispiel an. Sein Schicksal ist keineswegs außergewöhnlich – es ist vielleicht sogar milder als die meisten. Er ging wenigstens eine gerade Linie entlang, und das allein ist schon selten, beinahe ein Segen. Im Allgemeinen scheint das Leben abrupt von einem Ding zum anderen zu schwenken, zu stoßen, zu rütteln und sich zu winden. Ein Mensch geht in eine bestimmte Richtung, macht auf halbem Wege eine scharfe Wendung, bleibt stehen, lässt sich treiben, geht wieder weiter. Nichts ist jemals vorherzusehen, und unvermeidlich gelangen wir an einen ganz anderen Ort als den, zu dem wir aufgebrochen sind. In meinem ersten Studienjahr an der Columbia University ging ich jeden Tag auf meinem Weg zu den Vorlesungen an einer Büste Lorenzo Da Pontes vorbei. Ich kannte ihn vage als Mozarts Librettisten, aber dann erfuhr ich, dass er auch der erste

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