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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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was auch nur einen Schimmer von Hoffnung in sich barg. Meiner Vermutung nach hatte Fanshawe irgendwo einen Fehler begangen. Irgendjemand wusste, wo er war, oder jemand aus früheren Zeiten hatte ihn wieder gesehen. Das war keineswegs sicher, aber das schien mir der einzige einleuchtende Ansatz zu sein.
    Die Briefe vom College wirken ziemlich schwerfällig und aufrichtig. Fanshawe erzählt von Büchern, die er gelesen hat, von Diskussionen mit Freunden, und beschreibt das Leben im Studentenheim. Aber diese Briefe stammen aus der Zeit vor Ellens Zusammenbruch, und sie haben einen intimen, vertraulichen Ton, den die späteren Briefe nicht mehr haben. Auf dem Schiff, zum Beispiel, schreibt Fanshawe selten etwas über sich selbst – außer es gehört zu einer Anekdote. Wir sehen, wie er sich seiner neuen Umgebung anzupassen versucht, wie er im Aufenthaltsraum mit einem Öler aus Louisiana Karten spielt (und gewinnt), wie er in verschiedenen zweitklassigen Bars an Land Poolbillard spielt (und gewinnt) und dann seinen Erfolg als glücklichen Zufall erklärt: «Ich strenge mich so an, um nicht auf die Nase zu fallen, dass ich irgendwie mich selbst übertroffen habe. Ein Adrenalinstoß, denke ich.» Er beschreibt, wie er Überstunden im Maschinenraum machte, «sechzig Grad, ob du es glaubst oder nicht – meine Schuhe füllten sich mit so viel Schweiß, dass sie planschten, als ginge ich durch Pfützen»; wie er sich von einem betrunkenen Zahnarzt in Baytown, Texas, einen Weisheitszahn ziehen ließ: «Blut überall, und eine Woche lang kleine Zahnsplitter in dem Loch im Zahnfleisch.» Als Neuling ohne höheres Dienstalter bekam Fanshawe eine Arbeit nach der anderen. In jedem Hafen verließ ein Teil der Mannschaft das Schiff, um nach Hause zu gehen, und andere kamen an Bord. Wenn einer der Neuankömmlinge den Job, den Fanshawe hatte, einem freien vorzog, musste der Kleine (wie man Fanshawe nannte) etwas anderes tun. Daher arbeitete er abwechselnd als gewöhnlicher Matrose (und schrubbte und strich das Deck), als Faktotum (und wischte die Böden auf, machte Betten und reinigte Toiletten) und als Küchengehilfe (und servierte das Essen und spülte Geschirr). Letzteres war die schwerste, aber auch die interessanteste Arbeit, da sich das Leben auf dem Schiff hauptsächlich um das Essen drehte: der große Appetit, der von der Langeweile kam, die Männer, die buchstäblich von einer Mahlzeit zur nächsten lebten, das überraschend Wählerische bei einigen von ihnen (dicke, raue Männer beurteilten Gerichte mit dem Hochmut und der Verachtung französischer Herzöge des 18. Jahrhunderts). Aber Fanshawe erhielt einen guten Rat von einem alten Hasen, als er mit der Arbeit anfing. «Lass dir von keinem was gefallen», sagte der Mann. «Wenn sich einer über das Essen beklagt, sag ihm, er soll das Maul halten. Wenn er weitermacht, tu so, als wäre er nicht da, und bediene ihn als Letzten. Wenn das nicht hilft, sag ihm, das nächste Mal schüttest du ihm Eiswasser in die Suppe, oder noch besser, sag ihm, du pisst hinein. Du musst ihnen zeigen, wer der Boss ist.»
    Wir sehen Fanshawe, wie er dem Kapitän eines Morgens nach einer besonders stürmischen Nacht vor Kap Hatteras das Frühstück bringt: Fanshawe stellt die Grapefruit, das Rührei und den Toast auf ein Tablett, wickelt das Tablett in Alufolie und dann noch einmal in Handtücher und hofft, dass die Teller nicht ins Wasser geblasen werden, wenn er die Brücke erreicht (denn der Wind weht noch immer mit hundertzehn Stundenkilometern). Fanshawe steigt die Leiter hinauf, macht seine ersten Schritte auf der Brücke, und dann plötzlich, als ihn der Wind voll trifft, dreht er eine wilde Pirouette – die wütende Luft schießt unter das Tablett und zieht ihm die Arme über den Kopf, sodass es aussieht, als hielte er sich an einer primitiven Flugmaschine fest und wäre nahe daran, über das Wasser hinauszufliegen. Fanshawe nimmt alle seine Kräfte zusammen, um das Tablett herunterzuziehen, stemmt es schließlich gegen die Brust, und wie durch ein Wunder gleiten die Teller nicht davon. Dann geht er mit mühsamen Schritten die Brücke entlang, eine winzige Gestalt in dem Sturmchaos um ihn herum. Nach wer weiß wie vielen Minuten erreicht er das andere Ende, betritt das Steuerhaus, findet den rundlichen Kapitän hinter dem Rad und sagt: «Ihr Frühstück, Kapitän.» Und der Steuermann dreht sich um, wirft ihm einen kurzen anerkennenden Blick zu und antwortet mit zerstreuter Stimme:

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