Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen
Seefahrt hatte – ich glaube, er vertrat die Gewerkschaft der Seeleute oder so etwas –, und durch diesen Mann bekam er seine Papiere. Als mich der Brief erreichte, war er irgendwo in Texas, und das war es dann. Ich habe ihn mehr als fünf Jahre lang nicht wiedergesehen.
Jeden Monat oder so kam ein Brief oder eine Postkarte für Ellen, aber immer ohne Absender. Aus Paris, Südfrankreich, Gott weiß, woher, aber er achtete darauf, dass wir keine Möglichkeit hatten, uns mit ihm in Verbindung zu setzen. Ich fand dieses Verhalten jämmerlich. Feige und jämmerlich. Frag mich nicht, warum ich die Briefe aufgehoben habe. Es tut mir leid, dass ich sie nicht verbrannt habe. Das hätte ich tun sollen. Sie allesamt verbrennen.»
Sie sprach mehr als eine Stunde lang so weiter, ihre Worte wurden immer bitterer, erreichten Momente der Klarheit und verloren dann, nach dem nächsten Glas Wein, allmählich ihren Zusammenhang. Ihre Stimme war hypnotisch. Solange sie weitersprach, hatte ich das Gefühl, dass mich nichts mehr berühren konnte, dass ich immun war, geschützt durch die Worte, die aus ihrem Mund kamen. Ich machte mir kaum die Mühe zuzuhören. Ich schwebte in dieser Stimme, ich war von ihr umfangen, aufrecht gehalten durch ihre Fortdauer, getragen von dem Fluss der Silben, dem Steigen und Fallen, den Wellen. Als das Nachmittagslicht durch die Fenster auf den Tisch fiel, in den Soßen, der schmelzenden Butter, den grünen Weinflaschen funkelte, wurde alles im Raum so strahlend und still, dass es mir ganz unwirklich erschien, dass ich in meinem eigenen Körper dasaß. Ich schmelze, sagte ich mir und sah zu, wie die Butter in ihrer Schüssel weich wurde, und ein- oder zweimal dachte ich, dass ich dem Einhalt gebieten musste, dass ich die Situation nicht entgleiten lassen durfte, aber zuletzt tat ich nichts dagegen, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, dass ich nichts tun konnte.
Ich entschuldige mich nicht für das, was dann geschah. Trunkenheit ist nie mehr als ein Symptom, keine ausschließliche Ursache, und mir ist klar, dass es unrecht wäre zu versuchen, mich zu verteidigen. Trotzdem gibt es zumindest die Möglichkeit einer Erklärung. Ich bin jetzt ziemlich sicher, dass das, was folgte, ebenso viel mit der Vergangenheit zu tun hatte wie mit der Gegenwart, und ich finde es nun, da ich einen gewissen Abstand dazu habe, merkwürdig, wie mich an diesem Nachmittag alte Gefühle wieder einholten. Als ich da saß und Mrs. Fanshawe zuhörte, fiel es mir schwer, mich nicht daran zu erinnern, wie ich sie als Junge gesehen hatte, und dabei tauchten Bilder auf, die mir jahrelang nicht gegenwärtig gewesen waren. Eines vor allem traf mich mit großer Kraft: An einem Nachmittag im August, als ich dreizehn oder vierzehn war, schaute ich durch mein Schlafzimmerfenster in den Nachbargarten hinüber und sah Mrs. Fanshawe in einem zweiteiligen roten Badeanzug herauskommen; sie nahm lässig das Oberteil ab und legte sich mit dem Rücken zur Sonne auf eine Liege. All das war zufällig. Ich saß tagträumend an meinem Fenster, und unerwartet schlenderte eine schöne Frau in mein Blickfeld, beinahe nackt, ohne etwas von meiner Gegenwart zu ahnen, so als hätte ich selbst sie heraufbeschworen. Dieses Bild verfolgte mich lange, und ich kehrte, während ich heranwuchs, oft zu ihm zurück: die Begierde eines kleinen Jungen, die Phantasien spät am Abend. Nun, da diese Frau offenbar im Begriff war, mich zu verführen, wusste ich kaum, was ich denken sollte. Einerseits fand ich die Szene grotesk. Andererseits war etwas Natürliches, ja sogar Folgerichtiges daran, und ich fühlte, dass ich es, wenn ich nicht mit aller Kraft dagegen ankämpfte, geschehen lassen würde.
Es ist keine Frage, dass sie mein Mitleid weckte. In der Art, wie sie über Fanshawe gesprochen hatte, lag so viel Schmerz, eine so tiefe Traurigkeit drückte sich darin aus, dass ich allmählich Mitleid mit ihr bekam und ihr in die Falle ging. Ich weiß jedoch bis heute nicht, bis zu welchem Grade sie sich dessen bewusst war, was sie tat. Hatte sie es im Voraus geplant, oder geschah es von selbst? War ihr weit ausholendes Gerede eine List, um meinen Widerstand zu schwächen, oder war es ein spontaner Ausbruch echten Gefühls? Ich vermute, dass sie die Wahrheit über Fanshawe sagte, ihre eigene Wahrheit jedenfalls, aber das ist nicht genug, um mich zu überzeugen – denn sogar ein Kind weiß, dass die Wahrheit zu unredlichen Zwecken missbraucht werden kann. Noch wichtiger
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