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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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davon zurückzutreten. Was ich ihr nicht sagte, war, dass ich gar nicht mehr die Absicht hatte, es zu schreiben. Das Buch existierte für mich nur insofern, als es mich zu Fanshawe führen konnte, und darüber hinaus gab es überhaupt kein Buch. Es war für mich eine persönliche Angelegenheit geworden, etwas, was nichts mehr mit Schreiben zu tun hatte. All die Nachforschungen für die Biographie, all die Fakten, die ich aus seiner Vergangenheit zusammentragen würde, die ganze Arbeit, die mit dem Buch verbunden zu sein schien – das alles wollte ich nur einsetzen, um herauszufinden, wo er war. Arme Sophie. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, worauf ich aus war – denn was ich zu tun vorgab, unterschied sich nach außen nicht von dem, was ich tatsächlich tat. Ich setzte die Lebensgeschichte eines Mannes Stück für Stück zusammen. Ich sammelte Informationen, Namen, Orte, Daten, ich stellte eine Chronologie der Ereignisse auf. Warum ich so hartnäckig darauf bestand, erstaunt mich noch heute. Alles war auf einen einzigen dringenden Wunsch reduziert worden: Fanshawe zu finden, mit Fanshawe zu sprechen, Fanshawe ein letztes Mal gegenüberzutreten. Aber weiter kam ich nie, ich konnte mir nie eine klare Vorstellung davon machen, was ich durch eine solche Begegnung zu erreichen hoffte. Fanshawe hatte geschrieben, dass er mich töten würde, aber diese Drohung schreckte mich nicht. Ich wusste, dass ich ihn finden musste – dass nichts erledigt sein würde, bis ich ihn fand. Dies war die vorgegebene, die erste Grundwahrheit, das Mysterium des Glaubens: ich erkannte es an, aber ich machte mir nicht die Mühe, es in Frage zu stellen.
    Letzten Endes glaube ich nicht, dass ich wirklich die Absicht hatte, ihn zu töten. Die mörderische Vision, die mir bei Mrs. Fanshawe gekommen war, hielt nicht an, jedenfalls nicht in meinem Bewusstsein. Es gab Zeiten, in denen mir kleine Szenen durch den Kopf blitzten – wie ich Fanshawe erwürgte, wie ich ihn erstach, wie ich ihm ins Herz schoss –, aber andere Menschen waren in mir im Laufe der Jahre schon ähnliche Tode gestorben, und ich achtete nicht sonderlich darauf. Das Seltsame war nicht, dass ich vielleicht den Wunsch hatte, Fanshawe zu töten, sondern dass ich mir vorstellte, dass er wollte , dass ich ihn tötete. Diesen Gedanken hatte ich nur ein- oder zweimal – in Augenblicken äußerster Klarheit –, und ich kam zu der Überzeugung, dass darin der wahre Sinn des Briefes lag, den er mir geschrieben hatte. Fanshawe wartete auf mich. Er hatte mich als seinen Scharfrichter auserwählt, und er wusste, er konnte sich darauf verlassen, dass ich diese Aufgabe erfüllen würde. Aber eben deshalb wollte ich es nicht tun. Ich musste Fanshawes Macht brechen, nicht mich ihr unterwerfen. Das Entscheidende war, ihm zu beweisen, dass mir nichts mehr an ihm lag – darauf kam es an: ihn als Toten zu behandeln, obwohl er lebte. Aber bevor ich das Fanshawe beweisen konnte, musste ich es mir selbst beweisen, und die Tatsache, dass ich es beweisen musste, zeigte, dass ich mir noch zu viel aus ihm machte. Es genügte mir nicht, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Ich musste sie durcheinanderschütteln und sie zur Entscheidung bringen. Weil ich noch an mir zweifelte, musste ich Risiken eingehen, musste mich angesichts größtmöglicher Gefahr auf die Probe stellen. Fanshawe zu töten, würde nichts bedeuten. Das Entscheidende war, ihn lebend zu finden und dann von ihm als Lebender fortzugehen.

    Die Briefe an Ellen waren nützlich. Im Gegensatz zu den Notizbüchern, die spekulativ waren und keine Details enthielten, waren die Briefe höchst aufschlussreich. Ich spürte, dass sich Fanshawe bemühte, seine Schwester zu unterhalten und mit amüsanten Geschichten aufzuheitern, und daher waren die Anspielungen persönlicher. Namen, zum Beispiel, wurden oft erwähnt – von College-Freunden, von Kameraden auf dem Schiff, von Leuten, die er in Frankreich kannte. Und wenn auch auf den Umschlägen keine Absenderadressen zu finden waren, so wurden doch viele Orte erwähnt: Baytown, Corpus Christi, Charleston, Baton Rouge, Tampa, verschiedene Viertel in Paris, ein Dorf in Südfrankreich. Das genügte mir, um anzufangen, und mehrere Wochen lang saß ich in meinem Zimmer und legte Listen an; ich verband Menschen mit Orten, Orte mit Zeiten, Zeiten mit Menschen, ich zeichnete Karten, stellte Kalender auf, schlug Adressen nach, schrieb Briefe. Ich suchte nach Hinweisen und bemühte mich, allem nachzugehen,

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