Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen
Lebensmittel wegzuwerfen und davonzulaufen, ist es ziemlich sicher, dass er auf dem Heimweg ist. Blue macht daher seine eigenen Einkäufe, nimmt nebenan noch eine Zeitung und mehrere Zeitschriften mit und kehrt dann in sein eigenes Zimmer in der Orange Street zurück. Tatsächlich sitzt Black schon an seinem Tisch beim Fenster und schreibt in demselben Notizbuch wie tags zuvor.
Wegen des Schnees ist die Sicht schlecht, und Blue kann nur mit Mühe erkennen, was in Blacks Zimmer geschieht. Auch der Feldstecher ist keine große Hilfe. Der Tag bleibt dunkel, und durch den endlos fallenden Schnee gesehen, ist Black nicht mehr als ein Schatten. Blue findet sich mit einem langen Warten ab und wendet sich der Zeitung und den Zeitschriften zu. Er ist ein begeisterter Leser von Wahre Detektivgeschichten und versucht, nie einen Monat zu versäumen. Nun, da er viel Zeit hat, liest er die neue Ausgabe gründlich, sogar die kleinen Notizen und Anzeigen auf den letzten Seiten. Versteckt zwischen den Spezialartikeln über Gangsterjäger und Geheimagenten steht ein kurzer Artikel, der Blue besonders anspricht, und auch als er das Magazin zu Ende gelesen hat, fällt es ihm schwer, nicht daran zu denken. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte man in einem Waldstück außerhalb Philadelphias einen kleinen Jungen ermordet aufgefunden. Obwohl die Polizei sofort den Fall aufnahm, gelang es ihr nie, eine Spur zu finden. Sie hatte nicht nur keine Verdächtigen, sie konnte nicht einmal den Jungen identifizieren. Wer er war, woher er gekommen, warum er dort war – alle diese Fragen blieben unbeantwortet. Schließlich wurde der Fall zu den Akten gelegt, und wäre nicht der Leichenbeschauer gewesen, der mit der Autopsie an dem Jungen beauftragt worden war, würde man ihn völlig vergessen haben. Dieser Mann, der Gold hieß, war von dem Mordfall besessen. Bevor das Kind begraben wurde, nahm er ihm eine Totenmaske ab, und seitdem widmete er dem Geheimnis so viel Zeit, wie er erübrigen konnte. Nach zwanzig Jahren erreichte er das Pensionsalter, er gab seine Stellung auf und arbeitete von nun an jeden Augenblick an dem Fall. Aber er hatte kein Glück; er machte keine Fortschritte und kam der Aufklärung des Verbrechens keinen Schritt näher. Der Artikel in Wahre Detektivgeschichten beschreibt, wie er nun eine Belohnung von zweitausend Dollar für jeden aussetzt, der Auskunft über den kleinen Jungen geben kann. Abgedruckt ist auch eine körnige, retuschierte Fotografie des Mannes, der die Totenmaske in den Händen hält. Der Blick in seinen Augen ist so gequält und flehend, dass Blue kaum seine eigenen Augen abwenden kann. Gold wird nun alt, und er fürchtet, dass er sterben wird, bevor er den Fall lösen kann. Blue ist tief gerührt. Wenn es möglich wäre, würde er am liebsten aufgeben, was er tut, und versuchen, Gold zu helfen. Es gibt nicht genügend Männer wie ihn, denkt er. Wenn der Junge Golds Sohn wäre, würde das Ganze einen Sinn haben: schlicht und einfach Rache, und das kann jeder verstehen. Aber der Junge war ihm völlig fremd, er ist ihm in keiner Weise persönlich verbunden; es gibt keinen Hinweis auf ein geheimes Motiv. Dieser Gedanke bewegt Blue sehr. Gold weigert sich, eine Welt zu akzeptieren, in der der Mörder eines Kindes ungestraft davonkommt, auch wenn der Mörder selbst nun tot ist, und er ist bereit, sein eigenes Leben, sein eigenes Glück zu opfern, um das Unrecht wiedergutzumachen. Blue denkt eine Weile über den Jungen nach, er versucht, sich vorzustellen, was wirklich geschah, er versucht zu fühlen, was der Junge gefühlt haben mag, und dann dämmert ihm, dass der Mörder der Vater oder die Mutter gewesen sein muss, sonst hätte man den Jungen als vermisst gemeldet. Das macht es nur noch schlimmer, sagt sich Blue, und als ihm beim Gedanken daran übel wird und er nun voll versteht, wie Gold die ganze Zeit zumute gewesen sein muss, wird ihm bewusst, dass er vor fünfundzwanzig Jahren auch ein kleiner Junge war und dass der Junge, wäre er am Leben geblieben, jetzt so alt sein müsste wie er. Ich hätte es auch sein können, denkt Blue. Ich hätte dieser kleine Junge sein können. Da er nicht weiß, was er sonst tun soll, schneidet er das Bild aus dem Magazin und heftet es mit einem Reißnagel an die Wand über seinem Bett.
So vergehen die ersten Tage. Blue beobachtet Black, und es geschieht so gut wie nichts. Black schreibt, liest, isst, macht kurze Spaziergänge in der Nachbarschaft und scheint nicht zu bemerken, dass
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