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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten
Autoren: Roberto Bolaño
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mindestens so schön ist wie der Hurensohn, der mich sitzengelassen hat. Girau, sagte Padilla, ich liebe die Leute, und es zerreißt mich innerlich, und du liebst nur die Poesie.
     
Wie nah ging Amalfitanos Abreise dem Dichter Pere Girau?
     
    Überhaupt nicht, obwohl er hin und wieder daran denken musste, wie gut jener sich in elisabethanischer Dichtung auskannte, wie gut im Werk von Marcel Schwob, wie liebenswürdig und angenehm er war, wenn sie sich über italienische Gegenwartslyrik unterhielten (Girau hatte fünfundzwanzig Gedichte von Dino Campana ins Katalanische übertragen), wie gut er zuhören konnte und wie zutreffend seine Ansichten im allgemeinen waren. Im Bett war er anders, eine spätberufene, unbeholfene Schwuchtel, extrem unbeholfen. Obwohl er sich im Grunde, dachte der Dichter Pere Girau bitter, viel besser zu helfen weiß als wir, denn er wird immer ein Literaturprofessor sein, was ihm zumindest ökonomische Sicherheit gibt, während wir auf ein vulgäres und wildes Jahrhundertende zusteuern.

10
     
    Während des Fluges merkten beide, dass dem anderen bange war, wenn auch nicht sehr, und schicksalsergeben begriffen beide, dass sie nur einander hatten: Der Planet Amalfitano begann bei Oscar und endete bei Rosa, dazwischen gab es nichts. Oder vielleicht doch: eine schwindelerregende Folge von Ländern, ein Wirbel von Städten und Straßen, die sich in der Erinnerung mal verdunkelten, mal erhellten, das Gespenst von Edith Lieberman in Brasilien, ein imaginäres Land namens Chile, das an Amalfitanos Nerven zerrte, obwohl er von Zeit zu Zeit herauszubekommen versuchte, was dort vorging, und das der in Argentinien geborenen Rosa völlig gleichgültig war. Würde das Flugzeug brennend in den Atlantik stürzen, würde das Flugzeug explodieren, würde das Flugzeug im grenzenlosen Raum verschwinden, bliebe in der Welt keine Erinnerung an die Amalfitanos zurück, dachte Amalfitano traurig. Und dachte auch: Wir sind zwei Zigeuner ohne Clan, verabscheut, verbraucht, ausgenutzt, ohne echte Freunde, ich ein alter Narr, meine Tochter ein armes, wehrloses Mädchen. Was ihn auf den Gedanken brachte: Wenn statt uns beiden bei einem Flugzeugabsturz nur ich sterbe, an einem Herzinfarkt oder an Magenkrebs oder bei einer Schwulenhatz (Amalfitano schwitzte beim Gedanken an diese Möglichkeiten), was würde dann aus meinem Engel, meinem Liebling, meinem wunderbaren, intelligenten Mädchen?, und der Wolkenteppich, den er sah, wenn er den Hals ein wenig lang machte (er saß auf einem Gangplatz), öffnete sich wie das Tor der Albträume, wie eine makellose Wunde, Israel, dachte er, Israel, sie soll in die nächste israelische Botschaft gehen, die sie finden kann, und ihre Einbürgerung beantragen, ihre Mutter war Jüdin, das Recht dazu hat sie, sie soll in Tel Aviv leben und an der Universität von Tel Aviv studieren, wo sie bestimmt Flaco Bolzman treffen wird (wie lange habe ich ihn nicht gesehen? Zwanzig Jahre?), sie soll einen Israeli heiraten und glücklich werden, ach, dachte er, wenn es statt Israel Schweden sein könnte, wäre ich ruhiger, aber Israel ist nicht schlecht, Israel ist akzeptabel. Er dachte auch: Wenn keiner von uns stirbt, es uns aber in Santa Teresa schlechtgeht, wenn ich meinen Job verliere und keinen neuen finde, wenn ich nur privaten Französischunterricht erteilen kann und wir gezwungen sind, in einer billigen Pension zu wohnen, wenn wir in einer gottverlassenen Provinz langsam, aber sicher versauern und vor die Hunde gehen, ohne Geld, um von dort wegzuziehen, ohne einen Ort, wohin wir gehen könnten, wenn eine zähe, unendliche und perspektiv- und illusionslose Zeit uns einhüllt und betäubt, wenn ich ende wie diese spanische Witwe, die ich einmal in Panama, in einem Café in Colón, kennengelernt habe, das perfekte Opfer, eine Justine im Geiste, die in der ständigen Angst lebte, die Panamaer (Schwarze, große, athletische Schwarze) würden ihre süße fünfzehnjährige Tochter vergewaltigen und sie müsste tatenlos zusehen, eine Ausländerin bloß, eine Frau ohne Ehemann und Geld, Herrscherin über ein winziges Café, das keinen Gewinn abwarf, ohne Hoffnung auf eine Rückkehr nach Spanien, gefangen in einem Buñuel-Film aus den Fünfzigern. Was also tun?, dachte Amalfitano verwirrt, während er versuchte, unpassende Gedanken an Padilla zu verscheuchen sowie an trostlose und klischeehafte Landschaften der Neuen Welt, wo er bloß ein Kater inmitten von Rudeln von Hunden, ein Wiedehopf unter
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