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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten
Autoren: Roberto Bolaño
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der einzige, der die traurige Miene des Jungen bemerkte, und lächelte, verflixte Jugend. Nun, nun, nun, sagte Anna Carrera. Ja, sagte Amalfitano, die Stunde naht. Beneidenswert, sagte der Dichter Pere Girau, ich hätte große Lust, heute Abend nach Mexiko zu fliegen, Sie nicht? Lust schon, räumte Antoni Carrera ein. Padilla sah sie mit einem Lächeln an, das ironisch sein sollte, aber nur zärtlich war. Das muss am Mond liegen, sagte Anna Carrera. Am Mond?, sagte Amalfitano. Am Mond, am Mond, sagte Anna Carrera, wir haben einen riesigen Mond heute, einen, der dazu verleiten könnte, verrückte Dinge oder lange Reisen in exotische Länder zu tun. Es gibt in Lateinamerika keine exotischen Länder mehr, sagte Rosa. Ach nein?, sagte Anna, die die Schlagfertigkeit des Mädchens immer bewunderte. Nein, Anna, nirgends auf der Welt gibt es mehr exotische Länder, sagte Jordi. Glaub das nicht, sagte Amalfitano, es gibt schon noch exotische Länder, und sicher auch eins in Lateinamerika. Katalonien ist ein exotisches Land, sagte Padilla. Katalonien?, sagte der Dichter Pere Girau. Aber der Mond ist exotisch, sagte Antoni Carrera melancholisch. Nicht mal der, sagte Jordi, der Mond ist bloß ein Trabant. Ich liebe es, wenn Vollmond ist und ich am Strand liege und höre, wie das Meer steigt oder fällt, ich kann mir das nie merken, und ich zum Mond hochschaue, sagte der Dichter Pere Girau. Es steigt, sagte Antoni Carrera, und man nennt das Flut. Ich dachte, Flut bezeichne nur den höchsten Punkt des Meeresanstiegs, sagte Padilla. Es bezeichnet seine gesamte Dauer, sagte Antoni Carrera. Ich vergöttere das Steigen und Fallen des Meeres, sagte der Dichter Pere Girau und drehte das Weiß der Augen nach vorn, obwohl die Ebbe praktischer ist, weil man dann Schätze finden kann. Er hat das Weiß der Augen nach vorn gedreht, dachte Rosa, wie ekelhaft! Erinnerst du dich an unseren Honigmond in Peniche, Toni?, sagte Anna Carrera. Ja, sagte Antoni Carrera. Das Meer zog sich ganz weit zurück, mehrere hundert Meter, und der von der ersten Morgensonne beschienene Strand wirkte wie die Landschaft aus einer anderen Welt, sagte Anna. In der Bretagne passiert das jeden Tag, sagte der Dichter Pere Girau. Aber dort hat es nichts mit dem Mond zu tun, glaube ich, sagte Antoni Carrera. Natürlich hat es damit zu tun, sagte Amalfitano. Hat es wohl eher nicht, sagte Antoni Carrera. Hat es doch, sagte Amalfitano. Peniche ist auch ein exotisches Fleckchen, sagte Padilla, auf seine Weise, und mit seinen Beamten. Waren Sie schon mal in Peniche?, fragte Anna Carrera. Nein, aber ein Drittel der Barcelonesen hat dort gezeltet, sagte Padilla. Stimmt, eigenartig, heute ist jeder schon in Portugal gewesen, aber als wir damals hinfuhren, traf man selten auf Katalanen, sagte Anna Carrera. Politischer Tourismus war das, räumte Antoni Carrera halblaut ein. Mein Vater ist in den Ferien mit mir ins Alentejo gefahren, sagte Rosa. Amalfitano schmunzelte, eigentlich hatten sie nur auf der Durchreise kurz in Lissabon haltgemacht, aber die hauchzarte Bosheit seiner Tochter begeisterte ihn, wie eine richtige Brasilianerin, dachte er glücklich. Was wäre denn nun ein exotisches Land, sagte Jordi. Ein armer, aber glücklicher Landstrich, sagte Amalfitano. Somalia ist nicht exotisch, klar, sagte Anna Carrera. Marokko auch nicht, sagte Jordi. Es kann auch ein geistig armes, aber im Herzen frohes Land sein, sagte Padilla. Wie Deutschland, das mir zumindest sehr exotisch vorkommt, sagte Rosa. Was ist denn an Deutschland exotisch?, fragte Jordi. Die Eckkneipen, die Imbissbuden und die Ruinen der Konzentrationslager, sagte Padilla. Nein, nein, sagte Rosa, das nicht, der Reichtum. Mexiko ist ein wirklich exotisches Land, sagte der Dichter Pere Girau, das Lieblingsland von Breton, das Gelobte Land Artauds und der Mayas, die Heimat von Alfonso Reyes und Atahualpa. Atahualpa war ein Inka, ein peruanischer Inka. Stimmt, stimmt, sagte der Dichter Pere Girau. Dann schwiegen sie, bis der Moment des Abschieds und der Umarmungen kam. Pass gut auf deinen Vater auf, sagte Anna Carrera zu Rosa. Pass gut auf dich auf und denk manchmal an uns, sagte Padilla zu Amalfitano. Der Plural, wie eine ins Gesicht geschleuderte Blume, versetzte Amalfitano einen sanften Stich. Wie kleinmütig, dachte Amalfitano traurig. Viel Glück und gute Reise, sagte der Dichter Pere Girau. Jordi sah Rosa an, machte eine resignierte Geste und wusste nicht, was er sagen sollte. Rosa trat an ihn heran und sagte, lass
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