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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten
Autoren: Roberto Bolaño
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solchen Äußerungen zerstört man jede Liebe, dachte er.

3
     
    Vom Flug erinnerte Rosa, dass ihrem Vater mitten über dem Atlantik schlecht oder schwindlig wurde und plötzlich, ohne dass man sie gerufen hätte, eine Stewardess auftauchte und ihnen eine dunkelgolden leuchtende, angenehm riechende Flüssigkeit anbot. Die Stewardess hatte braune Haut, schwarzes, kurzgeschnittenes Haar, war durchschnittlich groß und kaum geschminkt, doch waren ihre Fingernägel sehr gepflegt. Sie ermunterte sie, zu kosten und ihr dann zu sagen, um welche Sorte Saft es sich handle. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als wäre es ein Spiel.
    Amalfitano und Rosa, von Natur aus misstrauisch, nahmen jeder einen Schluck.
    »Nektarine«, sagte Rosa.
    »Pfirsich«, brummelte Amalfitano fast unisono.
    »Falsch«, sagte die Stewardess, und ihr gut gelauntes Lächeln gab Amalfitanos müden Lebensgeistern etwas von ihrer verlorenen Energie zurück, »es ist Mango.«
    Vater und Tochter nippten erneut. Diesmal ließen sie sich beim Schmecken Zeit, wie Sommeliers, die die Fährte wiedergefunden haben. Mango, ob sie das schon einmal gekostet hätten?, fragte die Stewardess. Ja, sagten Rosa und Amalfitano, wir hatten es nur schon vergessen. Die Stewardess wollte wissen, wo. In Paris wahrscheinlich, sagte Rosa, in einer mexikanischen Bar, vor langer Zeit, als ich noch klein war, aber ich erinnere mich noch. Wieder lächelte die Stewardess. Es ist sehr lecker, fügte Rosa hinzu. Mango, Mango, dachte Amalfitano und schloss die Augen.

4
     
    Kurz nach Beginn des Semesters lernte Amalfitano Castillo kennen.
    Es war an einem Nachmittag, unmittelbar vor Einbruch der Dunkelheit, wenn der Himmel über Santa Teresa von leuchtend Dunkelblau zu einer Skala von Zinnoberrot- und Magentatönen wechselt, die sich nur kurz halten, bevor sie sich erneut in Dunkelblau und dann in Schwarz verwandeln.
    Amalfitano kam aus der Institutsbibliothek, und als er den Campus überquerte, fiel sein Blick auf eine eingerollte Gestalt unter einem Baum. Vielleicht ein Obdachloser oder ein Student, dem es nicht gutging, dachte er und näherte sich. Es war Castillo, der friedlich schlief und von Amalfitanos Gegenwart geweckt wurde: Als er die Augen öffnete, sah er eine hohe Gestalt mit weißem Haar und ein schmales, kantiges, besorgt dreinschauendes Gesicht, das an Christopher Walken erinnerte, und wusste sofort, er würde sich in ihn verlieben.
    »Du sahst ein bisschen aus wie tot«, sagte Amalfitano.
    »Nein, ich habe geträumt«, sagte Castillo.
    Amalfitano lächelte beruhigt und machte Anstalten zu gehen, tat es aber nicht. Diese Stelle des Campus glich einer Oase, drei Bäume, ein Hügel, außen herum ein Meer von Rasen.
    »Ich habe von den Bildern eines nordamerikanischen Malers geträumt«, sagte Castillo, »sie waren im Freien ausgestellt, auf einer sehr breiten, unbefestigten Straße, mit Häusern und Geschäften zu beiden Seiten, alle aus Holz gebaut, und es sah aus, als wollten die Gemälde unter so viel Sonne und Staub zergehen. Das ging mir furchtbar nah. Ich glaube, es war ein Traum über das Ende der Welt.«
    »So?«, sagte Amalfitano.
    »Das Seltsamste war, dass einige von den Bildern von mir stammten.«
    »Was soll ich sagen, ein merkwürdiger Traum.«
    »Nein, gar nicht«, sagte Castillo, »ich sollte das einem Unbekannten nicht erzählen, aber irgendwie vertraue ich dir: Einige habe wirklich ich gemalt.«
    »Einige?«, sagte Amalfitano, während die Nacht über Santa Teresa hereinzubrechen begann und aus einem scheinbar leerstehenden Universitätsgebäude eine Musik von Pauken und Hörnern und möglicherweise Harfe drang.
    »Einige von den Bildern«, sagte Castillo, »habe ich gemalt, habe ich gefälscht.«
    »Ach, wirklich?«
    »Ja, davon lebe ich.«
    »Und das erzählst du dem Erstbesten, der vorbeikommt, oder ist das allgemein bekannt?«
    »Du bist der erste, dem ich es erzähle, keiner weiß es, es ist ziemlich geheim.«
    »Schön«, sagte Amalfitano. »Und warum erzählst du es mir?«
    »Keine Ahnung«, sagte Castillo, »wirklich, ich weiß es nicht, wer bist du?«
    »Ich?«
    »Na gut, egal, das ist eine unverschämte Frage, sag es mir nicht«, sagte Castillo mit einer Stimme, deren Beschützerton Amalfitano die Haare zu Berge stehen ließ, »Mexikaner bist du nicht, das merkt man.«
    »Ich bin Chilene«, sagte Amalfitano.
    Die Antwort und sein Gesichtsausdruck waren in höchstem Maße demütig. So weit weg, sagte Castillo. Dann standen sich beide
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