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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten
Autoren: Roberto Bolaño
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schweigend gegenüber, Castillo ein wenig höher, weil auf dem Hügelchen, Amalfitano wie ein Vogel oder ein großes Federvieh, das am ganzen Körper den Einbruch der Nacht spürte, die Sterne, die rasant (auch gewaltsam , das wurde Amalfitano zum ersten Mal deutlich bewusst) den Himmel von Santa Teresa zu bedecken begannen, unbeweglich, in Erwartung eines Signals, unter den robusten Bäumen, die wie eine Insel zwischen dem Institut für Philosophie und Philologie und dem Rektoratsgebäude aufragten.
    »Gehen wir einen Kaffee trinken?«, sagte Castillo schließlich.
    »Gut«, sagte Amalfitano dankbar, ohne zu wissen, warum.
    Sie fuhren in Castillos Wagen, einem gelben Chevrolet Baujahr 1980, durch die Innenstadt von Santa Teresa. Das erste Mal machten sie im Dallas halt und unterhielten sich kultiviert über Malerei, Fälschungen und Literatur, dann gingen sie wieder, weil Castillo fand, dass es zu voll von Studenten war. Schweigend rollten sie durch Straßen, die Amalfitano nicht kannte, bis sie im Solamente una vez Station machten und dann, nach einem Fußweg durch glitzernde, enge Straßen, in denen man praktisch nicht parken konnte, im DominioTamaulipeco und im Estrella del norteund später im Toltecatl. Castillo lachte und trank Mezcal in einem fort.
    Das Toltecatl war ein großes, rechtwinkliges Lokal mit hellblau gestrichenen Wänden. An der Rückfront zeigte ein zwei mal zwei Meter großes Wandgemälde Toltecatl, den Gott des Pulque und Bruder von Mayahuel. Vor einem Hintergrund von herumlungernden Indios, Kuhhirten und Herden, Polizisten und Polizeiautos, bezeichnenderweise verlassenen Grenzposten, Vergnügungsparks beiderseits der Grenze, Kindern, die aus einer Schule mit dem in blauer Tinte auf gekalkte Wand geschriebenen Namen des Wohltäters beider Amerika, Benito Juárez, strömen, einem Obstmarkt und einem für Geschirr, nordamerikanischen Touristen, Schuhputzern, Bolero- und Ranchera-Sängern (Castillo machte ihn darauf aufmerksam, dass die Ranchera-Leute wie Revolverhelden, die Bolero-Leute wie Desperados oder Zuhälter aussahen), Frauen, die zur Messe gehen, und Nutten, die sich unterhalten, herumrennen oder unverständlich gestikulieren, lacht schallend der Gott Toltecatl, ein Indio mit eher rundlichem, von Narben und Schmissen gezeichneten Gesicht. Der Wirt, verriet ihm Castillo, hieß Aparicio Montes de Oca und hatte, als er die Bar kaufte, im Jahr 1985, in der Zeit des größten Andrangs, vor aller Augen ungestört einen Menschen getötet. Vor Gericht wurde er wegen Notwehr freigesprochen.
    Als Castillo ihm zeigte, wer Aparicio Montes de Orca war, der Mann dort hinter dem Tresen, fiel Amalfitano die große Ähnlichkeit zwischen dem Barbesitzer und Toltecatl an der Wand auf.
    »Das ist sein Porträt«, sagte Amalfitano.
    »Ja«, sagte Castillo, »er ließ es anfertigen, als er aus der Untersuchungshaft entlassen wurde.«
    Dann nahm Castillo ihn mit zu sich nach Hause, um ihm zu beweisen, dass er nicht gelogen hatte, dass er wirklich ein Bilderfälscher war.
    Er wohnte im ersten Stock einer alten, verwahrlosten zweistöckigen Mietskaserne in einer außerhalb der Stadt gelegenen Siedlung. Über dem ersten Erdgeschoss hing das Schild eines Eisenwarenladens; im zweiten Stock wohnte niemand. Schließ die Augen, sagte Castillo, während er die Tür aufschloss. Amalfitano lächelte, schloss aber nicht die Augen. Los, schließ die Augen, beharrte Castillo. Amalfitano gehorchte und drang behutsam in den Tempel vor, der sich ihm auftat.
    »Nicht gucken, bevor ich das Licht anmache.«
    Sofort öffnete Amalfitano die Augen. Das Mondlicht, das durch die gardinenlosen Fenster drang, ließ ihn die Umrisse eines großen, in grauen Dunst getauchten Zimmers sehen. Im Hintergrund erkannte er ein großes Gemälde von Larry Rivers. Was tue ich hier?, dachte Amalfitano. Als er das Klacken des Lichtschalters hörte, schloss er automatisch die Augen.
    »Jetzt kannst du gucken«, sagte Castillo.
    Das Studio war viel größer, als er anfangs gedacht hatte, und wurde von etlichen Neonröhren erleuchtet. In einer Ecke stand Castillos spartanisch anmutendes Bett; in einer anderen eine aufs Nötigste reduzierte Küche: Spirituskocher, Kühlschrank, einige Töpfe, Gläser, Teller, Besteck. Das übrige Mobiliar, abgesehen von den Leinwänden, die sich überall stapelten, bestand aus zwei alten Stühlen, einem Schaukelstuhl, zwei massiven Holztischen und einem Regal mit Büchern, vorwiegend über bildende Kunst. In der Nähe des
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