Die Noete des wahren Polizisten
Amalfitano in die Augen. Dieser verstand endlich und schüttelte den Kopf. Dann lächelte er gezwungen und sagte, nein, nein. Er zog einen Schein aus der Tasche und drückte ihn dem Jungen in die Hand. Der nahm den Schein und steckte ihn sich in einen seiner Turnschuhe. Als er sich bückte, glaubte Amalfitano, ein Mondstrahl würde auf seinen kleinen, knochigen Rücken fallen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Seine Identität ist das Geheimnis , erinnerte er sich. Was isn jetzt?, fragte der Junge. Jetzt wirst du nach Hause und ins Bett gehen, sagte Amalfitano, und sofort wurde ihm bewusst, wie dämlich seine Ermahnung war. Während sie gingen, diesmal einer neben dem anderen, steckte er die Hand in die Tasche und gab ihm noch mehr Geld. Danke, Mann, sagte der Junge. Damit du diese Woche etwas isst, sagte Amalfitano seufzend.
Bevor sie die Straße verließen, hörten sie ein Stöhnen. Amalfitano blieb stehen. Das ist nichts, sagte der Junge, das kommt von drüben, von der Llorona. Die Hand des Jungen zeigte auf den Eingang eines verfallenen Hauses. Amalfitano näherte sich ihm mit unsicherem Schritt. Im Dunkel des Hauseingangs stöhnte es wieder. Es kam von oben, aus einer der oberen Wohnungen. Der Junge war an seiner Seite und zeigte ihm die Stelle, Amalfitano machte noch ein paar Schritte ins Dunkel, traute sich aber nicht weiter. Als er kehrtmachte, sah er den Jungen auf einem Schutthaufen balancieren. Das ist die Verrückte der Straße, sie stirbt an Aids, sagte er und schaute zerstreut hoch zu den oberen Wohnungen. Amalfitano sagte nichts dazu. In der Calle Mina trennten sie sich.
13
Eine Woche später kehrte Amalfitano mit Castillo in die Straße zurück, wo er das Stöhnen gehört hatte. Er erkannte das Haus sofort wieder: Bei Tageslicht erschien es ihm nicht so schrecklich wie in jener Nacht. Im Hausflur hatte jemand versucht, eine Barrikade zu errichten. Jedoch befand sich das Innere in einem etwas besseren Zustand, auch wenn in den Fenstern die Scheiben fehlten, die Flure voller Gerümpel standen und der Boden mit Löchern übersät war.
Müssen wir da rein?, hatte Castillo angewidert gefragt. Amalfitano antwortete nicht und begann das Haus zu durchsuchen. In einem Zimmer im ersten Stock fand er eine Matratze und ein paar schmutzige Decken. Hier ist es, komm rauf, rief er Castillo zu. In einer Ecke gab es eine aus Ziegelsteinen improvisierte Herdstelle und oberhalb davon eine in die Wand gegrabene Nische, in der ein Topf, eine Pfanne, zwei Suppenlöffel und ein Plastikbecher Platz fanden. Am Fußende der Matratze lag, auf dem Boden zwar, aber in relativ gutem Zustand, ein Stapel Filmzeitschriften, kommerzielle ebenso wie künstlerische und filmtheoretische, letztere in englischer Sprache und mit vielen Fotos. Die Anordnung von Matratze, Nische und Zeitschriften verriet eine subtile, verzweifelte Ordnung, die sich gegen das Chaos und den Verfall des restlichen Hauses abgrenzte und schützte.
Amalfitano ging in die Knie, um die Gegenstände genauer zu untersuchen. Es ist, als würde man den Brief eines Sterbenden lesen, sagte er anschließend. Castillo, der am Türrahmen lehnte, zuckte mit den Schultern. Und was steht in dem Brief?, fragte er lustlos. Ich verstehe ihn nicht, er ist in einer fremden Sprache geschrieben, obwohl ich manchmal einzelne Wörter wiederzuerkennen glaube. Castillo lachte. Welche Wörter? Liebe, Einsamkeit, Verzweiflung, Wut, Traurigkeit, Ausgrenzung? Nein, sagte Amalfitano, nichts dergleichen. Das Wort, das ich gefunden habe, lässt mich schaudern, denn nie hätte ich gedacht, es ausgerechnet hier zu finden. Welches Wort denn, mach es nicht so spannend. Illusion, sagte Amalfitano, aber so langsam, dass Castillo ihn zunächst nicht hörte. Illusion, wiederholte Amalfitano. Na, ich weiß nicht, sagte Castillo, und fügte einen Moment später hinzu: Ich weiß beim besten Willen nicht, wo du das siehst, hier gibt es eher Schmutz als Illusion. Amalfitano sah Castillo in die Augen (Padilla hätte ihn verstanden) und lächelte. Castillo erwiderte das Lächeln, wenn du so bist, wenn du so lächelst, sagte er, siehst du aus wie Christopher Walken. Amalfitano sah ihn dankbar an (er wusste genau, dass er nicht die geringste Ähnlichkeit mit Christopher Walken besaß, aber es zu hören, war angenehm) und stöberte weiter im Zimmer herum. Plötzlich kam er auf die Idee, die Matratze anzuheben. Darunter lag, wie um es so zu bügeln, ein Hawaii-Hemd. Auf grünem Untergrund tummelten
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