Die Noete des wahren Polizisten
Lateinamerikanischer Dämmerung.) Wessen bin ich also schuldig? Geliebt zu haben und weiterhin zu lieben, nein, nicht zu lieben, sie zu vermissen, mich nach den Gesprächen mit den Freunden zu sehnen, die in die Wälder gingen, weil sie nie aufgehört haben, Kinder zu sein und an einen Traum geglaubt haben, und weil sie echte lateinamerikanische Machos waren und gestorben sind? (Und was sagen dazu ihre Mütter, ihre Witwen?) Gestorben wie die Fliegen? Gestorben wie die Soldaten der Unabhängigkeitskriege? Gestorben unter der Folter, durch Genickschuss, ins Meer geworfen, anonym verscharrt? War ihr Traum der Traum Nerudas, der Traum der Parteifunktionäre, der Traum der Opportunisten? Rätsel über Rätsel, sagte Amalfitano bei sich am Grund des Albtraums. Und sagte: Dereinst werden sich Neruda und Octavio Paz die Hand reichen. Früher oder später wird Paz Neruda im Olymp Platz machen. Dort, sagte Amalfitano bei sich selbst wie ein Verrückter, such dort, grab dort, dort gibt es Spuren von Wahrheit. In der Großen Unbehaustheit. Und sagte noch: Bei den Parias, bei denen, die absolut nichts zu verlieren haben, wirst du, wenn nicht den Grund, so die verdammte Rechtfertigung finden, und wenn nicht die Rechtfertigung, so den Gesang, kaum ein Flüstern (vielleicht sind es keine Stimmen, vielleicht ist es nur der Wind in den Bäumen), aber unvergänglich.
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Am Ursprung meines ganzen Übels, dachte Amalfitano manchmal, steht meine Bewunderung für Juden, Homosexuelle und Revolutionäre (für die echten Revolutionäre, für die Romantiker und gefährlichen Irren, nicht für die Apparatschiks der Chilenischen Kommunistischen Partei oder ihre morschen Schlägertypen, ah, diese gruseligen, grauen Gestalten). Am Ursprung meines ganzen Übels, dachte er, steht meine Bewunderung für einige Drogensüchtige (nicht für drogensüchtige Künstler, sondern stinknormale Drogensüchtige, Typen, die man selten fand, Typen, die sich buchstäblich von sich selbst ernährten, Typen wie schwarze Löcher oder ein schwarzes Auge, ohne Arme und Beine, ein schwarzes Auge, das sich nie öffnete oder nie schloss, das Verlorene Stammesgedächtnis, Typen, die ebenso sehr an der Droge zu hängen schienen wie die Droge an ihnen). Am Ursprung meines ganzen Übels steht meine Bewunderung für Verbrecher, Prostituierte und geistig Verwirrte, sagte sich Amalfitano verbittert. Als Jugendlicher wollte ich Jude sein, Bolschewik, Neger, Homosexueller, Drogensüchtiger und schräger Vogel, am besten noch einarmig, aber ich bin nur Literaturprofessor geworden. Zum Glück habe ich Tausende Bücher lesen können, dachte Amalfitano. Zum Glück habe ich Dichter kennengelernt und Romane gelesen. (Dichter waren für Amalfitano menschliche Wesen so hell wie der Blitz und Romane Geschichten, die der Quelle des Quijote entsprangen.) Zum Glück habe ich gelesen. Zum Glück kann ich noch lesen, sagte er sich halb skeptisch, halb zuversichtlich.
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An das Alter dachte Amalfitano kaum. Manchmal sah er sich am Stock eine helle Pappelallee entlanglaufen und verbissen lachen. Andere Male sah er sich ohne Rosa zu Hause eingeschlossen, die Vorhänge zugezogen, die Tür mit zwei Stühlen verrammelt. Wir Chilenen verstehen nichts vom Altwerden, für gewöhnlich enden wir in der fürchterlichsten Lächerlichkeit; doch bei aller Lächerlichkeit zeichnet unser Alter eine gewisse Tapferkeit aus, als würden wir mit den Runzeln und Zipperlein den Mut unserer im Land der Erd- und Seebeben gestählten Kindheit wiedererlangen. (Was Amalfitano über die Chilenen wusste , waren übrigens nur Vermutungen, seit langem hatte er zu ihnen keinen Kontakt mehr.)
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In einem seiner Seminare sagte Amalfitano: Die moderne lateinamerikanische Lyrik beginnt mit zwei Gedichten. Das erste ist das »Selbstgespräch des Individuums« von Nicanor Parra, veröffentlicht in seinen » Gedichten und Antigedichten« , Editorial Nascimiento, Chile 1954. Das zweite ist die » Reise nach New York« von Ernesto Cardenal, veröffentlicht Mitte der Siebziger (1974, glaube ich, aber nagelt mich nicht darauf fest) in einer Zeitschrift aus D.F.; ich besitze es in der 1978 bei Editorial Laia in Barcelona erschienenen » Anthologie« von Ernesto Cardenal. Sicher, Cardenal hatte vorher schon » Stunde Null« geschrieben, die » Psalmen« , die » Hommage an die Indianer Amerikas« und die » Couplets auf Mertons Tod« , aber den Wendepunkt, die definitive Wegscheide, markiert meines Erachtens die » Reise
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