Die Noete des wahren Polizisten
Art schlaffen, harmlosen Geschwuchtels, an der er im Alter laborierte. Er aber war so alt nicht, dachte er, Thomas Mann außerdem damals wahrscheinlich schon senil, was auf ihn nicht zutraf. Bei einigen spanischen Romanciers, die jenseits der Dreißig ihre warme Ader entdeckten, fand er auch keinen Trost: Die meisten waren nationalchauvinistische Tunten, so dass der bloße Gedanke an sie ihn deprimierte. Manchmal erinnerte er sich an Rimbaud und stellte verwegene Analogien her: In »Le Cœur Volé«, in dem einige Kritiker Rimbauds minutiöse Schilderung seiner Vergewaltigung durch einen Trupp Soldaten erblickten, als er auf dem Weg nach Paris war, wo er sich dem Traum der Commune anschließen wollte, sah Amalfitano, indem er einen Text gegen den Strich las, den man viele Male gegen den Strich lesen konnte, das Ende seiner Heterosexualität, erstickt an der Abwesenheit von etwas, das er nicht näher definieren konnte, einer Frau, einer Heldin, einer Überfrau. Und manchmal dachte er nicht nur an Rimbauds Gedicht, sondern rezitierte es laut, eine Vorliebe, die beide, Amalfitano und Rosa, von Edith Lieberman geerbt hatten:
Mon triste cœur bave à la poupe,
Mon cœur couvert de caporal:
Ils y lancent des jets de soupe,
Mon triste cœur bave à la poupe:
Sous les quolibets de la troupe
Qui pousse un rire général,
Mon triste cœur bave à la poupe,
Mon cœur couvert de caporal!
Ithyphalliques et pioupiesques
Leurs quolibets l’ont dépravé!
Au gouvernail on voit des fresques
Ithyphalliques et pioupiesques.
Ô flots abracadabrantesques,
Prenez mon cœur, qu’il soit lavé!
Ithyphalliques et pioupiesques
Leurs quolibets l’ont dépravé!
Quand ils auront tari leurs chiques,
Comment agir, ô cœur volé?
Ce seront des hoquets bachiques
Quand ils auront tari leurs chiques:
J’aurai des sursauts stomachiques,
Moi, si mon cœur est ravalé:
Quand ils auront tari leurs chiques
Comment agir, ô cœur volé?
Alles war klar, dachte Amalfitano dann, der jugendliche Dichter, von der Soldateska missbraucht, gerade als er sich – zu Fuß! – zum Treffen mit der Schimäre aufmachte, und wie stark Rimbaud war, dachte Amalfitano, schon auf jeden Trost verzichtend, gleichermaßen bewegt und voll Bewunderung, dass er fast unmittelbar darauf das Gedicht schrieb, mit kühlem Kopf, originellen Reimen, Bildern, die zwischen Komik und Monstrosität oszillierten …
22
Amalfitano sollte nie erfahren, dass der Korporal von »mon cœur couvert de caporal« , der Dreckskerl, der Rimbaud missbraucht hatte, beim mexikanischen Abenteuer von Maximilian und Napoleon III. Soldat in Bazaines Armee gewesen war.
Angesichts des völligen Ausbleibens von Nachrichten über das Schicksal von Oberst Libbrechts Marschkolonne schickte im März 1865 Oberst Eydoux, Kommandant der Festung von El Tajo, die als Nachschubbasis für alle im Nordosten operierenden Truppen diente, eine dreißig Reiter starke Sondereinheit nach Santa Teresa. Das Kommando stand unter dem Befehl von Hauptmann Laurent und den beiden Leutnants Rouffanche und González, letzterer ein mexikanischer Monarchist.
Die Einheit erreichte Villaviciosa am zweiten Tag und kam nie bis Santa Teresa. Alle Männer, bis auf Leutnant Rouffanche und drei Soldaten, die in dem Hinterhalt umkamen, in den die Franzosen gerieten, als sie in der einzigen Kneipe des Dorfes aßen, wurden gefangen genommen, darunter der spätere Korporal, damals ein zweiundzwanzigjähriger Rekrut. Die mit Hanfseilen gefesselten und geknebelten Gefangenen wurden vor den als Militärchef von Villaviciosa fungierenden Mann und eine Gruppe örtlicher Würdenträger gebracht. Der Chef war ein Mestize, den die anderen abwechselnd Inocencio und El Loco nannten. Die Würdenträger waren Bauern, die meisten barfuß, die sich die Franzosen anschauten und dann in eine Ecke zur Beratung zurückzogen. Nach einer halben Stunde und kurzem Hin und Her zwischen zwei deutlich divergierenden Gruppen wurden die Franzosen in einen überdachten Pferch gesperrt, wo man ihnen zunächst Schuhe und Kleidung abnahm und sie dann von einer Abordnung ihrer Häscher den restlichen Tag lang nach ausgiebig vergewaltigt und gequält wurden.
Um Mitternacht schnitt man Hauptmann Laurent die Kehle durch. Leutnant González, zwei Unteroffiziere und sieben Soldaten wurden auf die Hauptstraße geführt und gezwungen, im Schein der Fackeln das Fluchtversuch-Spiel zu spielen. Alle starben unter den Lanzen und Messern
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