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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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überhaupt keine Ähnlichkeit mit Pangloss.
    Jordi las den Brief in der Metro. Er hatte keine Ahnung, wer Candide oder wer Pangloss war, aber ihm schien, als stünde seine Freundin am Eingang zum Paradies, während er für immer im Fegefeuer schmachtete.

4
     
    Am Abend, nachdem sie sich zusammen einen Film im Fernsehen angesehen hatten, fragte er seinen Vater, wer Candide und Pangloss seien.
    »Zwei Figuren bei Voltaire«, sagte Antoni Carrera.
    »Ja, aber welche genau«, sagte Jordi, den der Name Voltaire vage an Kabarett und eine Rockgruppe erinnerte.
    »Die Figuren einer philosophischen Erzählung«, sagte Antoni Carrera, »aber das solltest du schon wissen. Ist das eine Schulaufgabe?«
    »Nein. Etwas Persönliches«, sagte Jordi, während er spürte, dass sein Zuhause ihn erstickte. Die Möbel, der Fernseher, der Garten mit den Lämpchen, alles war plötzlich erdrückend.
    »Candide ist ein Narr, wie er im Buche steht, und bei Pangloss läuft es mehr oder weniger auf dasselbe hinaus.«
    »Pangloss ist sein Lehrer?«
    »Ja. Er ist Philosoph. Der klassische Optimist. Genau wie Candide, wobei Candide von Natur aus Optimist ist und Pangloss Optimist vermittels der Vernunft. Im Grunde ein Kretin.«
    »Und der Roman spielt in Mexiko?«
    »Nein. Ich glaube nicht. Pangloss lehrt Theologie, Metaphysik, Kosmologie und Nigologie, und frag mich nicht, was Nigologie ist, weil ich es nicht weiß.«
    »Nigologie, aha«, sagte Jordi.
    Nachher suchte er das Wort Nigologie im Wörterbuch der Real Academia. Er fand es nicht. Zum Teufel mit diesen Scheiß-Madridern, dachte er wütend. Was der Sache am nächsten kam, war nígola. f. Mar . Horizontale Taue an Wanten und Marssegeln, die beim Aufentern als Sprossen dienen; Webeleine. Ein Segelschiff an Wanten und Marssegeln steuern! Es gab auch Nigromantie, deren Bedeutung Jordi aus Rollenspielen kannte, außerdem das Wort nigérrimo, ma. (Vom lateinischen nigerrimus.) Elativ von negro, schwarz, nigerrimus, sehr schwarz.
    Das Wort fand sich auch nicht im Diccionario ideológico de la lengua española von Julio Casares und ebenso wenig im Pompeu i Fabra .
    Später am Abend, als seine Eltern schliefen, stand er nackt auf und schlich mit genau bemessenen Schritten, als befände er sich auf einem Basketballfeld unter Gespenstern, in die Bibliothek seines Vaters, wo er so lange suchte, bis er eine Ausgabe von Candide in spanischer Übersetzung fand.
    Er las: »Es ist bereits klärlich dargetan, hub er zu explizieren an, daß die Dinge nicht anders sein können, als sie sind; denn da doch alles, was ist, zu einem Endzwecke geschaffen worden, so zielt auch notwendig alles auf den besten Endzweck ab. Gebt nur acht, und Ihr werdet diese Grundwahrheit durchgängig bestätigt finden. Betrachtet zum Beispiel Eure Nasen. Sie wurden gemacht, um Brillen zu tragen, und wirklich trägt man auch welche. Eure Beine: Ihr empfingt sie, um sie zu bestrumpfen und zu beschuhen, und Ihr bestrumpft und beschuht sie. Seht nur die Quadersteine! Sie wachsen, um zersägt, behauen und zum Bau der Paläste verwandt zu werden, derhalben hat unser gnädiger Herr Baron einen gar herrlichen Palast von Quadersteinen; der größte Baron im ganzen Herzogtume muß die beste, bequemste Wohnung haben, und hat sie auch. Die Schweine schuf Gott, damit der Mensch sie äße, und essen wir nicht Schweinefleisch jahraus jahrein? Folglich ist es Torheit mit einigen zu behaupten, daß alles gut gemacht ist, aufs beste ist alles gemacht, muß man sagen.«
    Eine Weile kniete er auf dem Teppich der Bibliothek und wiegte sich leicht, während seine fünf Sinne fern von ihm weilten. Habe ich mich in dich verliebt?, dachte er. Verliebe ich mich gerade? Und wenn ja, was soll ich tun? Ich kann keine Briefe schreiben. Ich bin geliefert. Dann flüsterte er verletzt: Mist, Rosa, Mist, so eine Sauerei, so eine Sauerei …

5
     
    In jenen Tagen träumte Jordi, dass er im Palau Sant Jordi spielen und gemeinsam mit den Stars des katalanischen Basketballs die Farben von Barcelona hochhalten würde. Der Gegner war Real Madrid, aber kein gewöhnliches Real Madrid. Der einzige Spieler der gegnerischen Mannschaft, den er erkannte, war Sabonis, allerdings ein stark gealterter, langsamer Sabonis, dem die Hände zitterten, wenn er den Ball annahm. Die übrigen Madrider Spieler waren unbekannt, aber nicht nur unbekannt, vielmehr wirkten sogar ihre Körper verschwommen, ihre Beine waren Beine, hatten aber zugleich einige für ein Paar Extremitäten seltsame

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