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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Eigenschaften, es war, als würden sie ständig zerfließen und neu gemalt. Das gleiche galt für ihre Arme und Gesichter, in denen man unmöglich einen bestimmten Ausdruck, ein klares Profil ausmachen konnte, obwohl dieses merkwürdige Phänomen die anderen Spieler von Barcelona nicht zu stören schien. Die Ränge des Palau waren bis zum letzten Platz gefüllt und die Schreie der Zuschauer so laut, dass Jordi für einen Moment glaubte, ohnmächtig zu werden. Ohne übermäßiges Erstaunen stellte er fest, dass er als Point Guard spielte, nicht wie üblich auf der Center-Position. Die Spieler von Real Madrid begannen bald Fouls zu begehen, und fast immer traf es ihn. Er kannte den Spielstand nicht, war so auf das Spiel konzentriert, dass er kein einziges Mal den Kopf hob, um auf die elektronische Anzeigentafel zu schauen. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, wo sich die Anzeigetafel befand, aber er ahnte, und das machte ihn wahnsinnig glücklich, dass sie am gewinnen waren. Als er merkte, dass er aus der Nase, an den Augenbrauen und an der Oberlippe blutete, veränderte sich die Szenerie radikal.
    Er befand sich nicht mehr auf dem Spielfeld im Palau, sondern in einer zwielichtigen Umkleidekabine mit Wänden aus unverputztem Beton, länglichen, feuchten Bänken und ständigen Wassergeräuschen, als flösse ein Fluss unter der Umkleidekabine hindurch. Er war nicht allein. Ein Schatten in einer Ecke beobachtete ihn. Jordi betastete sein blutiges Gesicht und beschimpfte den Schatten auf Katalanisch. Er sagte Hurensohn auf Katalanisch, dann Scheißkerl, wobei das katalanische Wort mit dem Spanischen identisch war. Der Schatten vibrierte wie ein defekter Ventilator. Jordi sagte zu sich, er sollte duschen, aber die ominöse Anwesenheit in der Ecke machte ihm das Entkleiden schwer. Er spürte Krämpfe in beiden Beinen, setzte sich und vergrub das Gesicht in den Händen. Unbegreiflicherweise sah er seinen Vater, seine Mutter und Amalfitano an einem Herbsttag Whisky trinkend im Garten, glücklich, anscheinend ohne irgendein am Horizont heraufziehendes Problem. Der Nachmittag, der Himmel, die Dächer und Dachgärten der benachbarten Gebäude waren ihrerseits von ergreifender Schönheit. Wo ist Rosa?, fragte er sehnlich und darum besorgt, das Gleichgewicht, um dessen Empfindlichkeit er dunkel wusste, der Szene nicht zu stören. Aber seine Eltern machten nicht den Eindruck, als würden sie ihn hören. Unschwer begriff er, dass sie sich in einer anderen Dimension befanden. Dann stieg der Traum in die Höhe, er flog in einem Ballon oder einer Wolke, und unten in den Straßen von Barcelona kämpften die katalanischen Nationalisten gegen die spanische Armee um jedes Haus. Ohne dass es ihm jemand gesagt hätte, kannte Jordi den Namen der Armee: Sie hieß Königliche Armee, Vaterländische Armee und kämpfte mit beispielhafter Zähigkeit gegen ihn und die Seinen. Aber diesmal hatten nicht nur die Soldaten der Mittelmächte undeutliche Gesichter und Extremitäten, auch die katalanischen Milizionäre verschwammen zwischen den Trümmern, und sogar die Schreie der Verwundeten oder die der Anführer, die Vormarsch oder Rückzug befahlen, waren so beschaffen, zerflossen in der Luft, flohen aus der katalanischen Sprache und der kastilischen Sprache in ein Reich, in der Worte wie Elektrodiagramme waren und Stimmen wie die Träume des Tartarus.
    Im letzten Bild seines Traums sah Jordi sich selbst in einer Ecke hocken, mit aller Kraft seine Knie umschlingen und an Rosa, Rosa, Rosa in weiter Ferne denken.

6
     
    Celestino Arraya, dessen Haus und Gedenkstätte Rosa Amalfitano an ihrem dritten Tag in Santa Teresa besucht hatte, wurde im Jahr 1900 in Villavidiosa geboren und starb 1933 in der Taverne Los Primos Hermanos, wenige Monate nach Hitlers Machtergreifung. Über seine Kindheit ist wenig bekannt: Die Legende hat es übernommen, ihn als abgebrühten Jeune doré erscheinen zu lassen, wo er in Wirklichkeit seine dörflichen Jahre zwischen wildem Vieh auf der Farm seines Paten Federico Montero verbracht hat, eines distinguierten und begüterten Politikers, der mit ruhigem Blut und viel Instinkt gut durch die stürmischen Revolutionsjahre gekommen war. Die Arena, die im Jahr 1920 seinen ersten Triumph erleben durfte, war die von Piedras Negras. Von da an rissen die erfolgreichen Auftritte in Städten und Dörfern der Grenzregion nicht mehr ab: Ojinaga, Nogales, Matamoros, Nueva Rosita sind einige der Orte, die er auf Schultern getragen verließ, in

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