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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Anruf bei einer Partie Poker unterbrach.
    »Dozent«, sagte er.
    »Vor- und Zuname?«, fragte Pedro, während er einen melancholischen Blick in seine Karten warf.
    Der Rektor nannte ihm beides.
    In einer Woche schicke ich dir seine Biographie und seine sämtlichen Werke«, versprach er seinem Bruder und legte auf.

5
     
    Amalfitano wurde 1942 in Temuco, Chile, geboren, an dem Tag, als die Nazis ihre Kaukasus-Offensive starteten.
    Er erlangte die Hochschulreife im philosophisch-sprachlichen Zweig eines irgendwo in den Schlammwüsten und im Dunst des Südens verlorenen Gymnasiums. Er lernte tanzen, Rock ’n’ Roll und Twist, Bolero und Tango, nicht aber die Cueca, obwohl er sich öfters mit gehisstem Taschentuch mitten auf die Tanzfläche stürzte, angefeuert nur von seiner Seele, denn Freunde hatte er zu diesem patriotischen Zeitpunkt keine, eher Feinde, puristische, über seine fußstampfende Cueca, diese eigenmächtige, selbstmörderische Heterodoxie entsetzte Bauern. Seine ersten Räusche schlief er unter einem Baum aus und lernte die schutzlosen Augen von Carmencita Martínez kennen, und eines Nachmittags badete er bei Gewitter in Las Ventanas. Er fühlte sich unverstanden und einsam. Eine Weile lang hörte er, als wäre er verrückt geworden oder als wenn ihn die Natur, indem sie sein Gehör schärfte, auf etwas Unsichtbares und Schreckliches hinweisen wollte, im Bus und in den Restaurants Sphärenmusik. Er trat der Kommunistischen Partei und dem Bund Fortschrittlicher Studenten bei, schrieb Pamphlete und las Das Kapital . Er verliebte sich und heiratete Edith Lieberman, das schönste Mädchen seiner Generation.
    Irgendwann in seinem Leben wurde ihm klar, dass Edith Lieberman alles verdiente, und ahnte, dass er es ihr nicht würde geben können. Er ging mit Jorge Teillier einen trinken und diskutierte mit Enrique Lihn über Psychoanalyse. Er wurde aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und glaubte weiterhin an Klassenkampf und Revolution in Lateinamerika. Er war Philosophieprofessor an der Universidad de Chile und veröffentlichte in Zeitschriften Aufsätze über Gramsci, Walter Benjamin und Marcuse. Er unterschrieb Aufrufe und Briefe linker Gruppen. Er prophezeite den Sturz Allendes und unternahm trotzdem nichts in dieser Hinsicht.
    Nach dem Putsch wurde er verhaftet und einem Verhör mit verbundenen Augen unterzogen. Man folterte ihn lustlos, er aber glaubte, er hätte die härteste Behandlung überstanden und staunte über sein Durchhaltevermögen. Er blieb mehrere Monate in Haft, und als er freikam, traf er in Buenos Aires mit Edith Lieberman zusammen. Anfangs verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Übersetzer. Er übersetzte John Donne, Spenser, Ben Jonson und Henry Howard für eine Reihe englischer Klassiker. Er fand Arbeit als Philosophielehrer an einer privaten Realschule, und dann mussten sie Argentinien verlassen, weil die politische Situation unerträglich wurde.
    Eine Zeitlang lebten sie in Rio de Janeiro, dann zogen sie nach México D.F., wo ihre Tochter geboren wurde, der sie den Namen Rosa gaben, und er aus dem Französischen Die grenzenlose Rose von J.M.G. Arcimboldi für einen Verlag in Buenos Aires übersetzte, während er hörte, wie seine angebetete Edith sagte, dass der Name Rosa wohl doch eine Hommage an den Titel dieses Romans sei und nicht, wie er versicherte, eine Art Verbeugung vor Rosa Luxemburg. Danach lebten sie eine Weile in Kanada und zogen von dort nach Nicaragua, weil beide wollten, dass ihre Tochter in einem revolutionären Land aufwüchse.
    In Managua unterrichtete er für einen Hungerlohn Hegel, Feuerbach, Marx, Engels, Lenin, gab aber auch Seminare zu Platon, Aristoteles, Boethius, Abaelard und begriff, was er im Grunde immer gewusst hatte: dass die Totalität unmöglich ist, dass die Erkenntnis eine Methode ist, Bruchstücke zu klassifizieren. Danach gab er ein Seminar über Mario Bunge, an dem nur ein Student teilnahm.
    Kurz darauf erkrankte Edith, und sie gingen nach Brasilien, weil er dort mehr verdiente und die medizinische Behandlung bezahlen konnte, die seine Frau benötigte. Mit seiner Tochter auf den Schultern badete er an den schönsten Stränden der Welt, während Edith Lieberman, die schöner war als diese Strände, barfuß im Sand saß und sie vom Ufer aus betrachtete, als wüsste sie Dinge, die er niemals wissen und sie ihm niemals sagen würde. Er engagierte sich in einer trotzkistischen Partei in Rio de Janeiro. Er übersetzte Osman Lins und war

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