Die Noete des wahren Polizisten
Bucareli, in die Bar La Encrucijada, Ecke Bucareli mit Victoria, und in eine Reihe zwielichtiger Tanzschuppen in der Avenida Guerrero.
Der aus dem Norden und der aus Michoacán bildeten ein seltsames Paar. Gullón war redselig, egozentrisch und gebildet. Pablo Negrete war zurückhaltend, scheinbar nicht sonderlich um sein Ego besorgt, dafür aber sehr um sein Erscheinungsbild, und seine Kenntnis der griechischen Klassiker war eher lückenhaft. Allerdings hegte der aus dem Norden ein Interesse an deutscher Philosophie. Gullón zollte ihr nur olympische Verachtung: Der einzige anständige deutsche Philosoph wäre Lichtenberg, sagte er, und der sei weniger ein Philosoph als ein Witzbold und Spaßvogel vor dem Herrn. Dagegen schätzte er Montaigne und Pascal. Und konnte aus dem Gedächtnis ganze Passagen aus Empedokles, Anaxagoras, Heraklit, Parmenides und Zenon von Elea zitieren, bewundert von Pablo, der ihn mit jedem Tag mehr mochte.
Pedro Negrete dagegen hatte viele Freunde. Dass er Polizist war, erleichterte die Sache. Ein Polizist, erkannte er, ohne dass ihm das jemand sagen musste, konnte sich seine Freunde aussuchen. Das Pflegen von Freundschaften, eine ihm unbekannte Kunst, wurde zu seinem größten Steckenpferd. Als Kind waren ihm Freundschaften ein Rätsel, manchmal ein Risiko, ein Wagnis. Als Erwachsener verstand er, dass Freundschaft, der Kern der Freundschaft, in den Eingeweiden wurzelte, nicht im Gehirn oder im Herzen. Alles reduzierte sich auf ein Spiel wechselseitiger Interessen und eine souveräne Art, die Leute zu berühren (sie körperlich zu berühren, sie zu umarmen, ihnen auf die Schulter zu klopfen). Und gerade im Polizeidienst gelangte diese Kunst zu höchster Blüte.
1958, er war achtundzwanzig Jahre alt, wurde er zum Inspektor befördert. Kurz darauf kehrte Pablo nach Santa Teresa zurück, wo er eine Stelle an der Universität erhielt. Geld hatten sie keins, aber Mumm in den Knochen, und ihre Karrieren nahmen unaufhaltsam ihren Lauf. 1977 wurde Pedro Negrete Polizeihauptkommissar von Santa Teresa. 1982 übernahm Pablo Negrete, während eines Skandals um seinen Vorgänger, den Posten des Rektors.
Kurz nachdem er Amalfitano kennengelernt hatte, sieben Stunden danach, um genau zu sein, rief Pablo Pedro an. Anlass seines Anrufs war eine Vorahnung. Folgendes war geschehen: An diesem Nachmittag hatte sich in seinem Büro der neue Professor für Philosophie vorgestellt, und am Abend, im Frieden seiner Bibliothek, vor einem Glas Whisky und dem dritten Band der Geschichte Mexikos von Guillermo Molina, fiel dem Rektor der Professor wieder ein. Er hieß Oscar Amalfitano, war Chilene und hatte bis jetzt in Europa gelehrt. Und dann hatte er die Vision. Er war nicht betrunken, nicht einmal besonders müde, weshalb die Vision real war. (Oder ich werde verrückt, dachte er, verwarf diese Möglichkeit jedoch gleich wieder.) In der Vision ritt Amalfitano auf einem der Pferde der Apokalypse durch die Straßen von Santa Teresa. Er war nackt, sein weißes Haar wild gesträubt und blutbespritzt, und er schrie, wobei unklar war, ob vor Schreck oder vor Freude. Das Pferd wieherte, als würde es gleich sterben. Das Wiehern stank buchstäblich zum Himmel. Wo der Reiter vorbeikam, häuften sich in den Hauseingängen der Altstadt die Toten. Die Straßen füllten sich mit Leichen, die rasch verwesten, als stünde die Zeit unter dem Diktat des teuflisch schnellen Galopps von Ross und Reiter. Dann, als sich die Vision auflöste, sah er Panzerwagen und Patrouillenfahrzeuge in der Universität und zerrissene Transparente, obwohl es diesmal keine Leichen gab. Sie haben sie fortgeschafft, dachte er.
An diesem Abend konnte er Pedro nirgends finden und brauchte länger als gewöhnlich, um einzuschlafen. Am nächsten Tag rief er auf dem Kommissariat General Sepúlveda an und versuchte, mit seinem Bruder zu sprechen. Er war nicht da. Er rief ihn zu Hause an, und auch da erwischte er ihn nicht. Am Abend rief er von seinem Büro aus erneut im Kommissariat an. Man bat ihn zu warten. Durchs Fenster sah er, wie die Lichter der benachbarten Gebäude erloschen und die letzten Studenten sich über den Campus zerstreuten. Er hörte die Stimme seines Bruders am anderen Ende der Leitung.
»Ich brauche eine Auskunft über ein ausländisches Subjekt«, sagte er, »möglichst diskret, nur aus Neugier.«
Es war nicht das erste Mal, dass er seinen Bruder um einen solchen Gefallen bat.
»Dozent oder Student?«, fragte Pedro Negrete, den der
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