Die Noete des wahren Polizisten
manikürten Fingern und seinem flachen, gastritischen Magen. Bis weit in ihre Jugend hinein waren beide nur mittelgroß, schlank, besaßen einen dunklen Teint und einen gutmütigen Gesichtsausdruck. Dann legte Pablo gegenüber seinem Bruder um fünf Zentimeter zu, und auf seinem Gesicht hielt ein Ausdruck immerwährender Verblüffung Einzug. Pedro dagegen kam von seiner bisherigen Statur nicht los, schien mit zunehmender Fülle sogar zu schrumpfen, aber sein Gesicht kräftigte und weitete sich und wechselte von Sanftmut zu solider Einfalt, einer trügerischen Einfalt, die bei genauer Betrachtung Respekt oder Angst einflößte. Mit siebzehn waren sie bereits völlig verschieden, und Pablo beschloss, seine Studien an der Universität fortzusetzen, während Pedro dank der guten Dienste eines Unteroffizier-Onkels in den Polizeidienst von Santa Teresa eintrat. Es war das erste Mal, dass die Zwillinge sich trennten.
In seine leuchtend blaue Uniform gezwängt, verbrachte Pedro seine Tage damit, durch die Siedlung Juárez zu schlendern, speziell durch die Calle Mina, wo sich die Nutten und die ausgefallensten Geschäfte der Stadt befanden: Haushaltswarenläden, die wie Waffenhandlungen aussahen, Waffenhandlungen, die wie Gefängnisse aussahen, Arztpraxen, in denen Impotenz und alle Arten von Geschlechtskrankheiten behandelt wurden, winzige Buchhandlungen, deren Sortiment an Horror-, Liebes- und Zweiterweltkriegsgeschichten bis an die Fahrbahn schwappte, Tierpräparatoren, die in ihren dunklen, hohen Regalen Leoparden und Adler ausstellten, Cantinas und Pulquerías, in denen eine zwielichtige Kundschaft verkehrte.
Pablo dagegen schrieb sich für Jura ein und spülte nachts Geschirr in einem italienischen Restaurant in der Calle Veracruz, auf der Grenze zwischen Escobedo und Juárez. Es gehörte einem ehemaligen Rhetorikprofessor und war das einzige italienische Restaurant in Santa Teresa, damals zumindest, später kamen Pizzerien, Hamburgerrestaurants und sogar Snackbars dazu, alles, was es braucht, um den Gaumen einer modernen Stadt zufriedenzustellen, aber zu jener Zeit gab es in Santa Teresa nur ein italienisches Restaurant, ein baskisch-französisches und drei chinesische. Überall sonst aß man mexikanisch.
Die ersten Jahre waren nicht leicht. Ein gewisser Hang zur Melancholie und eine mittelmäßig glückliche Kindheit trugen nicht dazu bei, die beiden Brüder auf die Arbeit vorzubereiten, aber letztlich waren beide hart genug und überlebten. Nach und nach kamen sie voran und zurecht, und obwohl Pablo Negrete bald merkte, dass ihn die Jurisprudenz eher langweilte als interessierte, konnte er das Studium mit Hilfe kleiner Tricks abschließen und ein Stipendium für ein Philosophiestudium in der Hauptstadt erlangen. Pedro wiederum gab hinlängliche Beweise für seine Tapferkeit als Polizist und Mensch, vor allem auch für sein ausgezeichnetes Gespür und Taktgefühl im Umgang mit den richtigen Leuten. Ohne viel Getöse erklomm er die Karriereleiter der Polizei von Santa Teresa. Seine Vorgesetzten respektierten und seine Untergebenen liebten und fürchteten ihn zu gleichen Teilen. Zu jener Zeit wurden auch gewisse Gerüchte über ihn laut. Er habe, hieß es, eine Prostituierte in ihrem Hotelzimmer erstochen, habe ein hohes Tier der Eisenbahngewerkschaft ermordet (obwohl durch Santa Teresa gar kein Zug fuhr), habe fünf aufsässige Saisonarbeiter verschwinden lassen, um einem Farmer aus der Umgebung einen Gefallen zu tun. Aber man konnte ihm nie etwas nachweisen.
Pablo schloss das Philosophiestudium mit einer Doktorarbeit ab, deren Titel Heidegger und das mexikanische Denken lautete und die einige Kommilitonen und Professoren in der Tradition großen kritischen Denkens sahen, während sie in Wirklichkeit in fünfundzwanzig Tagen nach allen Regeln gewieften Plagiierens von dem aus Michoacán gebürtigen Dichter Orestes Gullón verfertigt worden war, der drei Jahre später an hepathitischer Leberzirrhose sterben sollte. Gullón, Redakteur beim Nacional , Autor beleidigender Palindrome und Akrostichen sowie von Versen, die hin und wieder in Provinzblättchen und irgendwelchen Zeitschriften aus D.F. abgedruckt wurden, war der einzige Freund von Pablo Negrete während dessen glücklicher und gedeihlicher Zeit in der Hauptstadt; immer korrekt und höflich, verstand es Negrete, sich keine Feinde zu machen, aber einen echten Freund besaß er nur in Gullón. Mit ihm ging er regelmäßig ins Café La Habana in der Calle
Weitere Kostenlose Bücher