Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
schon von Berufs wegen.«
»Gut, ich will es dir verraten. Weil du mein Auserwählter bist. Aber verrate es niemandem sonst. Ich müsste dann sehr böse mit dir werden!«
»Einverstanden. Niemand wird es erfahren«, stimmte Seshmosis zu.
»Also, es ist so: Ich habe da einen kleinen Helfer, einen sehr kleinen Helfer. Es ist ein Käfer, der einige Jahrhunderte in Toths Lendentuch lebte und so zum größten Sprachexperten unter den Insekten wurde. Wirklich eine hervorragende Kraft. Schreibt fließend einhundertzweiundachtzig alte, neue und zukünftige Sprachen.«
»Du behauptest, ein Käfer schreibt unsere Heiligen Schriften? Mit Feder und Tinte?«
»Nein, ja und nein.«
»Was soll das heißen?«
»Nein, er schreibt nicht alle eure Heiligen Schriften. Ja, er schreibt ›Die Kleine Karawane‹. Nein, nicht mit Feder und Tinte.«
»Womit schreibt er dann?«, fragte Seshmosis verblüfft.
»Mit sich selbst.«
»Wie – mit sich selbst?«
»Na ja, er läuft über den Papyrus, und aus seinem Hintern kommt ein Farbstoff, der die Schriftzeichen bildet.« Die Stimme von GON klang nun ganz leise.
»Willst du damit sagen, unsere Heiligen Schriften sind Insektenscheiße?!«, rief Seshmosis entsetzt.
»Still, brüll nicht so. Wir sind schließlich nicht allein. Wenn du eine Ahnung hättest, wer sich hier alles herumtreibt, würdest du vor Angst schlottern. Und überhaupt, was erwartest du von einem Käfer? Dass er eine Kanzlei unterhält, Tinte herstellt und Gänsekiele spitzt? Er kann es nun einmal nur so. Also freu dich, dass überhaupt etwas auf der Rolle steht.« GON schien leicht eingeschnappt zu sein, denn aus der Richtung, aus der die Stimme kam, ergoss sich ein leichter Funkenregen auf Seshmosis, der erschrocken zurückwich.
»Entschuldigung. Es tut mir Leid. Ich bin nur mein Leben lang den Heiligen Rollen mit großer Ehrfurcht gegenübergetreten, und nun erfahre ich…« Seshmosis brach ab. Zu ungeheuerlich waren für ihn GONs Offenbarungen.
»Ich weiß nicht, womit eure anderen Rollen beschrieben wurden. Es ist doch nicht so wichtig, wie die Zeichen auf die Rollen kommen, sondern was sie bedeuten. Da stimmst du mir doch zu?«
»Ja, natürlich!« Seshmosis nickte heftig mit dem Kopf.
»Und weiterhin ist doch wichtig, dass ich euch helfen kann, oder?«
»Ja doch, ja! Du willst uns helfen?«
»Genau deshalb bist du hier. Du sollst mein Prophet werden und so deinem Stamm helfen. Denn es steht euch einiges bevor, und ich bin mir sicher, dass ihr ohne mich keine Chance habt.«
»Und wie soll es weitergehen?«, fragte Seshmosis hoffnungsfroh.
»Wir beide werden uns jetzt öfter treffen. Dann kann ich dir Ratschläge geben, wie ihr heil aus dieser Sache herauskommt. Geh jetzt schlafen und kehre morgen kurz vor Sonnenuntergang hierher zurück.«
Seshmosis stand auf und ging schweigend zum Lager. Dabei fragte er sich, ob ihn sein Verstand wirklich begleitete. Aber vielleicht sah am Morgen die Sache ganz anders aus.
Nicht weit von der Stelle, an der Seshmosis GON begegnet war, fand ein weiteres Treffen statt.
»Ich habe dich erwartet«, sagte Seth zu dem Schemen, der wie aus dem Nichts plötzlich neben ihm stand. Mehr und mehr konkretisierte sich die Form und bildete sich schließlich zu einem überaus bizarren Wesen mit Krokodilkopf, Raubkatzenleib und dem Hinterteil eines Nilpferds. Es war Ammit, auch die »Große Fresserin« genannt. Sie gehörte zu den uralten Gottheiten, zu denen, die schon Seth gefürchtet hatte, als er noch ein Mensch gewesen war.
Ammit, die Verschlingerin, die Göttin des Jenseitsgerichts, trat Menschen gegenüber äußerst selten in Erscheinung, und wenn, dann war es für diejenigen zu spät. Nach dem Glauben der Ägypter und nach Vereinbarung sämtlicher Götter fand nach dem Ableben jedes Sterblichen ein Gericht statt. Ort der Verhandlung war Amentet, das Westland, wo sich der Gerichtssaal befand.
Dieses Totengericht entschied, ob der eben Verstorbene in die göttliche Welt eingehen durfte. Um einer Verurteilung zu entgehen, war jeder gläubige Ägypter darauf vorbereitet, in einer Unschuldserklärung alle möglichen Vergehen und Schandtaten aufzuzählen und zu versichern, dass er sie keinesfalls begangen habe. Und falls er doch nicht so unschuldig war, versuchte er das Gericht zu täuschen. Die Unschuldserklärung lernten die Leute schon von klein auf, ebenso die Täuschungsmöglichkeiten.
Nach einer solchen mündlichen Verhandlung ging es erst richtig los.
Dann wurde
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