Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
das Herz des Toten auf eine Waagschale gelegt, auf eine andere eine Straußenfeder. Diese Feder war Maat, die rechte Ordnung, das Herz dagegen war Ka, was man mit der Seele des Verstorbenen gleichsetzen kann.
Der Gott Toth, als Herr von Weisheit und Gerechtigkeit, leitete die Wägung und notierte das Ergebnis in Anwesenheit von Osiris, der einem Gremium von zweiundvierzig Richtern vorsaß.
Waren Herz und Feder im Gleichgewicht, hatte der Tote die Prüfung bestanden. Nicht einfach, wenn man das Gewicht eines normalen Herzens mit dem einer Straußenfeder vergleicht. War das Herz schwerer, gehörte der Kandidat Ammit und ihren Krokodilzähnen. Oder auch Babi, dem Dämon der Finsternis, der noch mehr Zähne besitzen soll als Ammit. Das Urteil war immer endgültig, eine Berufungsinstanz gab es bei diesem Gericht nicht. Ammit hatte normalerweise extrem viel zu tun.
»Werden die Götter kämpfen?«, wollte Seth von Ammit wissen.
»Ich bin keine Hellseherin, meine Zuständigkeit betrifft mehr die letzten Dinge, um nicht zu sagen, die allerletzten.«
»Aber du bist hier, also geschieht Ungewöhnliches. Sonst bewegst du dich doch nie aus dem Gerichtssaal, aus Angst, du könntest jemanden verpassen«, scherzte Seth.
»Mir entgeht niemand, dessen Seele zu schwer wiegt. Aber hier dreht es sich um etwas anderes.«
»Ich weiß. Wir leben in interessanten Zeiten.«
»Leben?«, echote Ammit und entblößte dabei eine gewaltige Zahnreihe.
»Du weißt, was ich meine. Maat gerät aus dem Gleichgewicht. Die Ordnung wankt. Die Feder selbst ist in Gefahr.« Sorge klang in Seths Stimme.
»Wir sollten mit ihnen reden«, sagte Ammit ruhig. Es war dieselbe Ruhe, mit der sie am Ende jeder Gerichtsverhandlung ihren Rachen aufriss.
»Sie sind sehr unterschiedlich, die beiden.« Gedankenverloren streichelte Seth das Tier an seiner Seite, das es ihm mit einer Mischung aus Fauchen und Grollen dankte. Das Geräusch entsprach dem freundlichsten Laut, zu dem ein Seth-Tier fähig war. »Der eine bringt bereits alles in Aufruhr. Und was der andere vorhat, wissen wir nicht. Er ist noch sehr klein.«
»Du weißt, warum er klein ist, Seth. Weil seit langer, langer Zeit keiner mehr an ihn glaubt. Aber mit jedem Menschen, der sich ihm zuwendet, wird er größer. Und ich weiß, dass er schon einmal sehr groß war. Größer als jeder Einzelne von uns, größer als Osiris, Isis, Amun und du zusammen!«, erklärte Ammit.
»Der andere macht mir Sorgen. Wir haben keinen Vertrag mit ihm, und wir wissen nicht, was er plant.«
»Er scheint sich auf diesen einen Stamm zu konzentrieren. Vielleicht will er gar nicht die ganze Macht«, beschwichtigte Seth sich selbst.
»Dann wäre er der erste Gott, der bescheiden ist«, stellte Ammit trocken fest.
»Warum jetzt?«, wollte Seth wissen.
»Weil es Zeit ist. Weil es ihre Zeit ist.«
Am nächsten Tag, kurz vor Sonnenuntergang, ging Seshmosis wieder den kleinen Hügel hinauf und den Abhang hinunter an das Wasserloch, setzte sich unter eine Palme und fragte: »Bist du da?«
Eine Stimme ganz nah bei ihm antwortete: »Versprochen ist versprochen.«
So begab es sich, dass Seshmosis die Heiligen Gesetze empfing. Allerdings unterscheiden sich die privaten Aufzeichnungen dieses Ereignisses erheblich von den Begebenheiten, wie sie später von GONs schreibendem Käfer in der Schrift »Die Kleine Karawane« erzählt werden.
So lief es wirklich ab.
Seshmosis: »Willst du mir jetzt nicht Gesetze oder so was übergeben?
Auf Tontafeln graviert? Oder schön in Gold gearbeitet? Oder von deinem Heiligen Käfer auf Papyrus geschrieben?«
GON: »Warum Ton? Wer sollte die Schrift hineinritzen? Wieso Gold? Wozu diese Verschwendung? Und dann die Diebstahlgefahr. Und wieso sollte ich meinen Käfer arbeiten lassen? Wozu? Du bist so ziemlich der Einzige in deinem Stamm, der lesen und schreiben kann. Was denkst du, warum ich mir einen Schreiber ausgesucht habe?«
Seshmosis: »Ach so, du diktierst, und ich schreibe? Was soll ich denn schreiben? Dass du der Einzige bist und wir keine Götter neben dir haben dürfen?«
GON: »So absolut würde ich das nicht formulieren. Siehe, ich bin mächtig. Ziemlich zumindest. Von hier bis, sagen wir einmal, bis zu dem Baum dort drüben. Siehst du ihn?«
Seshmosis: »Den da? So ungefähr zweihundert Meter von hier?«
GON: »Nein, den davor.«
Seshmosis: »Aber das sind ja höchstens hundert Meter!«
GON: »Na ja, ich bin zwar ziemlich mächtig, aber mit dem Sehen läuft es nicht
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