Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
sicher?«
»Ja, ich kann sie schützen. Leg dich nun schlafen, du wirst morgen viel Kraft brauchen.«
Und Seshmosis gehorchte seinem Gott.
El Vis ließ die letzten Töne von Im Ghetto verklingen und blickte Kalala schmachtend an.
Die schmachtete zurück und griff ihn am Arm, um mit ihm hinter den Vorhängen des Bootsaufbaus zu verschwinden. Ihr Lieblingssklave und Leibwächter Tafa schaute zur Taverne am Ufer, wo Warn’keter und seine Mannschaft eine weitere Nacht bei starkem Bier und schrecklichen Nachrichten verbringen mussten.
Die größte Bibliothek Ägyptens befand sich weder im Palast des Pharaos noch in einem Tempel des Toth, des Gottes der Gelehrsamkeit. Die größte Bibliothek Ägyptens besteht nur aus einem einzigen Buch – dem Unterweltsbuch »Amduat«. Ein Buch, so schwer, dass tausend Menschen es nicht heben können, so dick, dass es nicht in die Dimension der Menschen passt, und so umfangreich, dass selbst ein Gott wie Toth es nicht erfasst. Amduat verzeichnet das Leben jeder Seele, die je in Ägypten wandelte. Jedes Ereignis jedweder Lebensform, ob Mensch, Tier oder Gott, schimmert hier in endlosen Hieroglyphenreihen auf ewig. Die Regentschaft des legendären ersten Pharao Skorpion fand hier ebenso Eingang wie der Kampf von Osiris und Seth. Die Hieroglyphen stöhnen das Stöhnen der Sklaven beim Pyramidenbau ebenso wie den letzten Schrei des Kranichs, den Seshmosis als Zwölfjähriger mit einem Pfeil tötete. Übrigens das erste und einzige Mal, dass Seshmosis jemanden oder etwas um sein Leben brachte.
Amduat braucht keine Schreiber, es schreibt sich selbst. In jeder Sekunde, in der Leben verlischt, ein neues Kapitel.
Und in dieser Nacht sollte selbst das gewaltige Amduat an seine Grenzen stoßen.
Ra legte sich wie jede Nacht auf ein kissenbeladenes Lager der Barke Medektet und verlor sich in den Gedanken an seine eigene Herrlichkeit.
Kaum ein anderer Gott in Ägypten erfreute sich solch einer Beliebtheit wie er. Einzig Aton, der Gott der Sonnenstrahlen, reichte ein bisschen an ihn heran. Ra ging davon aus, dass man ihn einfach lieben und verehren musste. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass in der Sonne schwitzende Arbeiter ihn ob seiner sengenden Glut verfluchten. Oder Verirrte, die in der Wüste schmorten, weil er ihnen den letzten Tropfen aus dem Körper presste. Er fand sich einfach herrlich und genoss seine eigene Gesellschaft.
Sicher würde irgendwann in der Nacht Apophis, dieser widerwärtige Wurm, versuchen, ihn samt sei ner Barke zu verschlingen. Doch wie immer würde er ihn zurückschlagen und demütigen. Arrogant schnippte Ra ein imaginäres Stäubchen von seinem göttlichen Gewand, als ein Stoß die Barke erschütterte.
Immer noch gelangweilt blickte er über die Reling in der Erwartung, Apophis’ Schlangengestalt zu sehen. Doch stattdessen schaute er in die Löwenfratze von Malles. Der erdreistete sich sogar, mit seiner fürchterlichen Pranke nach Ra zu schlagen.
Der Sonnengott wich zurück und stieß dabei gegen etwas, obwohl hinter ihm nichts hätte sein dürfen. Er spürte einen Atem im Nacken und dann einen Biss. Ra erstarrte. Gebissen von Nehebkau, dem Herrn der Zeit.
Nehebkau, wie Apophis aus der Familie der Schlangendämonen, galt als der größte und dunkelste Zauberer Ägyptens. Sein Kult kannte viele Formen, und er erschien in vielen Gestalten. Auch außerhalb von Ägypten verehrten sie ihn. Das Kennzeichen seiner Priester, der Schlangenstab, verbreitete Angst und Schrecken in allen von Menschen bevölkerten Ländern. Und nicht nur in diesen.
Der Biss von Nehebkau ließ für Ra die Zeit stillstehen.
Apophis wusste, dass er Ra nicht würde töten können, und so beschloss er, ihn zumindest auszuschalten. Gemeinsam mit Mahes und Meresger, der schlangenköpfigen Göttin des Westens, enterten sie die Nachtbarke.
Mahes ergriff das Steuerruder und tat etwas Unglaubliches – er änderte den Kurs der Barke.
Von alters her fuhr Mesektet stets den gleichen Weg durch das Reich der Nacht. Ra brauchte nicht zu steuern, das tat die Barke selbst. Doch nun hieß ihr Ziel Amentet, das Westland, das Reich der Toten.
Als Chepre, der Käfer, am Morgen die Sonne abholen wollte, fand er das m’m-Tier leblos auf dem Boden liegen. Die Sonne selbst glänzte nicht, wie sonst, auf dem dreieckigen Arbeitstisch der Spitzmaus, es glänzte überhaupt nichts. Die Sonne war verschwunden.
Chepre stieß einen Laut aus, wie es nur göttliche Käfer vermögen. Ein
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