Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
Schrei nie gehörter Kraft ließ alle Götter Ober- und Unterägyptens erschaudern.
Und jede und jeder machte sich auf den Weg – laufend, rennend, fliegend, schwimmend, wie auch immer.
In Sauti zweifelte ein alter Hahn an seiner inneren Uhr. Noch nie in seinem Leben hatte er die Sonne sehen müssen, um zu wissen, wann sie aufging. Stolz erzählte er allen Hennen und vor allem anderen Hähnen, dass er mit verbundenen Augen den Tag erkennen konnte. Doch heute gab es keinen Tag zu erkennen. Die Nacht weigerte sich zu verschwinden. Als Hahn mit Prinzipien krähte er dennoch gegen die Dunkelheit.
Bei den Menschen dagegen herrschte helle Aufregung, oder besser gesagt, dunkle.
Normalerweise sagten die Priester Sonnenfinsternisse mit großem Brimborium voraus und nahmen solche Ereignisse stets zum Anlass, an die erhöhte Opferbereitschaft der Gläubigen zu appellieren. Doch selbst die Priesterschaft befand sich im Stadium zunehmender Verwirrung. Diese wuchs zur Panik, als man die Toten fand.
Es betraf jedes Haus und jeden Stall – die Erstgeborenen waren gestorben!
Später sollte eine berühmte Schrift wie folgt über dieses Ereignis berichten: »Und zur Mitternacht schlug der Herr alle Erstgeburt in Ägyptenland von dem ersten Sohn Pharaos an, der auf seinem Stuhl saß, bis auf den ersten Sohn des Gefangenen im Gefängnis und alle Erstgeburt des Viehs. Da stand Pharao auf, und alle seine Knechte in derselben Nacht und alle Ägypter, und ward ein großes Geschrei in Ägypten; denn es war kein Haus, darin nicht ein Toter war.«
Allerdings erzählt diese Aufzeichnung nicht, was wirklich geschehen war und wie es danach weiterging. Auch der Grund für diese umfassende Todesursache entspricht in dieser Darstellung nicht den Tatsachen. Aber Geschichtsschreibung ist immer selektiv, und jeder nimmt aus den Ereignissen das, was für seine Absichten taugt.
Das Unterweltsbuch Amduat schrieb sich so rasend wie nie. Rot glühten die Hieroglyphen auf den Seiten, die sich schneller weiterblätterten, als das Auge wahrnehmen konnte.
Eben erzählte es noch die Geschichte vom ältesten Sohn des Scharfrichters der Mafdet, schon erschien die kurze Biografie eines Kalbs in einem Stall zu Theben, abgelöst vom Lebensbericht einer fünfzehnjährigen Tempeltänzerin in Memphis. Weitergeschrieben mit unwirklicher Geschwindigkeit, huschten die Zeichen über die Seiten, jeglichem Wesen zum Gedenken, das in dieser Nacht verstarb.
Im Lager der Tajarim herrschte Finsternis wie im ganzen Land. Die Menschen fürchteten sich, doch es gab keine Verluste zu beklagen. Auf Anordnung von Seshmosis hatte man alle Zelte kontrolliert und alle Tajarim wohlbehalten gefunden. Der Schreiber ging erleichtert in sein Zelt und sagte: »GON, ich danke dir!«
»Ich sage doch schon die ganze Zeit, dass du mir vertrauen kannst«, entgegnete der Gott. »Und jetzt baut ihr mir einen Schrein, versprochen?«
»Versprochen«, bestätigte Seshmosis. »Aber sag mir doch erst einmal, was eigentlich los ist.«
Und GON erzählte es ihm.
»Wie geht es jetzt weiter? Sollen wir für immer in Dunkelheit leben? Dann werden auch wir sterben«, jammerte Seshmosis resigniert.
»Die Götter lassen sich das nicht bieten. Sie versammeln sich schon, um Apophis in die Schranken zu weisen. Sei geduldig, mein kleiner Prophet, alles wird gut.«
Die Nachtbarke Mesektet erreichte Amentet, das Westland, das Land des Todes. Vorne am Bug Ra, zu seinem eigenen Standbild erstarrt durch die angehaltene Zeit. Neben ihm räkelte sich der Schlangendämon Apophis in der Gewissheit seines Sieges. Während der löwenköpfige Mahes immer noch das Steuer fest in den Pranken hielt, genossen der Herrscher der Zeit, Nehebkau, und die Herrscherin des Westens, Meresger, ihren Triumph. Für Letztere bedeutete die Ankunft die Rückkehr in ihre Heimat, in ihr ureigenes Reich.
Es ist für einen Sterblichen nicht einfach, eine Vorstellung vom Westland Amentet zu entwickeln. Ganz einfach, weil es selbst und alles darin jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens liegt. Zwar versuchen die ägyptischen Totenbücher Bilder jenes Reiches zu vermitteln, doch sie alle entspringen lediglich der Fantasie von Menschen. Sie glauben zum Beispiel, dass sie nach ihrem Tod in diesem Land wandeln und sich von ihren Uschebti bedienen lassen. Uschebti sind Jenseitsdiener, die man den Verstorbenen als mehr oder minder kunstvoll gefertigte Figuren mit ins Grab gibt.
Da aber das Westland
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