Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
Standbild erreichten, stand die Sonne fast im Zenit. Ihre Strahlen wurden vom Gold der Statue reflektiert und in Hunderten von Edelsteinen gebrochen.
Seshmosis sondierte die Lage. Sein Ziel war es, so nahe an das Standbild heranzukommen, dass Raffim es berühren konnte. Dann müsste, zumindest nach seinem Plan, das Ankh wieder an den Gott zurückgehen. Doch immer noch befanden sich zwischen ihnen und Suchos viele Pilger. Und vor allem eine Einheit von grimmig blickenden Tempelwachen, die dafür sorgten, dass die Gläubigen ihrem Gott nicht die Edelsteine aus dem Gewand brachen. Wie sollten sie diesen mit Speeren bewaffneten Männern klar machen, dass sie dem Gott nichts stehlen, sondern etwas bringen wollten?
Hilfe suchend blickte sich Seshmosis um. Dann hatte er eine Idee.
»Raffim, leg dein Gewand ab!«
»Bist du verrückt? Ich kann mich doch nicht vor all den Menschen nackt ausziehen!«
»Dein Lendentuch kannst du anbehalten. Aber sie müssen dich leuchten sehen. Erhebe das Ankh zur Statue und gehe gerade darauf zu. Lass dich nicht aufhalten.«
»Und wenn sie auf mich einstechen?«
»Solange du das Ankh hast, kann dir nichts geschehen. Also los!«
Nostr’tut-Amus nickte zustimmend, was bei seiner Nase so aussah, als hacke ein Raubvogel in die Luft.
Zähneknirschend legte Raffim in geduckter Haltung sein Kapuzengewand ab. Dann sprang er auf, reckte das Ankh zum Himmel, stürmte auf die Statue zu und rief: »Für Suchos!«
Die Tempelwachen hatten große Erfahrung mit religiösem Wahnsinn. Mindestens einmal pro Woche drehte ein Pilger durch. Als hervorragendes, schnell wirkendes Heilmittel bei diesen Anfällen erwiesen sich Speerspitzen. Richtig platziert, holten sie den Patienten umgehend in die blutige Wirklichkeit zurück.
Doch diesmal war etwas anders als sonst. Der durchgedrehte Pilger leuchtete intensiv grün, das taten die anderen nie. Und als ihn die Speere trafen, sanken sie nicht routinemäßig ins Fleisch, sondern prallten ab. Doch nicht nur das – die Wachen, die zugestoßen hatten, fielen auch noch bewusstlos zu Boden.
Doch Raffim beachtete sie nicht weiter. Unbeirrt setzte er seinen Weg zur Statue fort. So bemerkte er gar nicht, dass niemand mehr versuchte, ihn aufzuhalten. Wer von den Tempelwachen noch auf den Beinen war, verfolgte die Szene staunend mit offenem Mund.
Das Staunen wurde noch größer, als Raffim mit dem ausgestreckten Ankh das Standbild berührte. Statue und Raffim wurden augenblicklich von einem grünen Wabern umhüllt. Im Innern dieser Blase zuckten Blitze, die Luft flirrte, doch es war kein Ton zu hören.
Die Menge hielt den Atem an. Und Seshmosis ebenfalls. Er sorgte sich um Raffim, obwohl dieser ihn zeitlebens schikaniert hatte.
Die Statue erwachte zum Leben. Suchos selbst fuhr in sie. Er hob die Hand mit dem grün leuchtenden Ankh zum Himmel und öffnete seinen schrecklichen Rachen.
Ein unirdischer Ton erklang, der lauter und lauter wurde. Die Menschen pressten sich die Hände auf die Ohren, doch es nutzte nichts, der Ton schien inmitten der Köpfe zu entstehen. Nach und nach fielen alle auf die Knie, taub und blind.
Seltsamerweise waren weder die Tajarim noch Nostr’tut-Amus von diesem Phänomen betroffen. Seshmosis starrte auf den lebendig gewordenen Gott und den Mann zu seinen Füßen, der trotz seiner Körperfülle winzig aussah.
Suchos berührte Raffim mit seinem wiedergewonnenen Ankh und ließ eine Träne aus seinem linken Auge auf ihn rollen. Dann gab er der reglosen Gestalt mit dem Fuß einen kleinen Schubs, sodass sie Richtung Seshmosis rollte.
»Schnell!«, rief dieser. »Almak, Mumal, hebt ihn auf! Wir müssen verschwinden, bevor die Menge wieder zum Leben erwacht.«
Die beiden kräftigen Tajarim packten Raffim, und gemeinsam eilten sie aus dem Innenhof. Niemand machte Anstalten, sie aufzuhalten.
Erst als sie den Bezirk mit den Herbergen erreichten, hielten sie keuchend an. Almak und Mumal ließen Raffim ziemlich unsanft auf den Boden plumpsen. Der Seher beugte sich über den immer noch leblosen Mann und kniff ihm in die Wange. Als dies keine Wirkung zeigte, gab er ihm ein paar Ohrfeigen.
»Au! Lass das!« Raffim schüttelte entrüstet den Kopf. Dann sah er an sich herab. Seine normale Farbe war ziemlich zurückgekehrt. Und auch das Ankh in seiner Hand war verschwunden. Er seufzte. Doch statt des Ankh war etwas anderes in seiner Hand, eine große Träne, matt schimmernd wie eine kostbare Perle.
»Stellt ihn auf die Beine und lasst uns laufen.
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