Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
Antwort schlüpfte Isbel in den Pferch, stellte sich neben die gewaltige Kuh, die in Wirklichkeit die Göttin Methyer war, und versuchte ihre Augen auf die Sichtlinie des Rindes zu bringen. Der Blick ging entgegengesetzt zum Bahr Yusuf Richtung Wüste.
So sehr sich Isbel auch bemühte, sie konnte nichts erkennen, außer einem leichten Flirren in der Luft, aber das war für die Wüste typisch.
Sie schüttelte den Kopf und verließ den Pferch. »Nichts. Ich kann nichts erkennen. Aber vielleicht sind Raubtiere dort draußen. Wir sollten Wachen aufstellen.«
Melmak nickte und beschloss, in dieser Nacht den Pferch nicht unbeaufsichtigt zu lassen.
In der Zwischenzeit waren Seshmosis, Mani und Shamir mit Nostr’tut-Amus im Schlepptau im Lager eingetroffen. Bevor der Schreiber sich mit dem Seher in sein Zelt zurückzog, stellte er ihn einigen Leuten vor und erklärte, dass dieser sich der Karawane anschließen wolle.
In der Zeltmitte stand der Schrein von GON. Schedrach hatte gute Arbeit geleistet, die ehemalige Schmuckkiste war frisch poliert, und alle Ecken und Kanten wurden von bronzenen Beschlägen geschützt. Oben verschloss ein Deckel mit Knauf die Kiste.
Der Seher warf einen kurzen Blick auf den Schrein und nickte. Anscheinend entsprach das Gesehene seinen Erwartungen.
Seshmosis forderte Nostr’tut-Amus auf, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst auf sein Lieblingskissen.
»So, mein Bester, und jetzt bitte ohne Umschweife, was habt Ihr mir zu sagen?«
»Der dort soll mein Zeuge sein«, der Seher deutete mit seinem imposanten Krallenfinger auf GONs Schrein. »Ich spreche die Wahrheit.«
»Gut, dann sprecht endlich!«
»Erst gestern braute ich mir einen Sud, der sehend macht. Die Rezeptur stammt von Toth selbst! Und kaum hatte ich den Becher geleert, da sah ich Euch und ihn.« Wieder deutete er auf den Schrein.
In diesem Moment materialisierte eine widderköpfige Sphinx auf dem Schrein.
»Lasst euch nicht stören. Ich dachte nur, da sowieso von mir die Rede ist, kann ich auch optisch anwesend sein.«
Der Seher verneigte sich ehrerbietig vor GON: »Es freut mich, Euch zu sehen.«
»Ganz meinerseits. Doch nun hurtig voran. Auch ein Gott ist neugierig.«
»In meiner Vision schient Ihr mir eine Katze zu sein«, der Seher wirkte etwas beunruhigt. »Aber egal, wie es Euch beliebt. Ich sah also Euch und jenen Propheten, und dann sah ich einen grünen Mann und den Krokodilgott Suchos. Sie umarmten einander, und der Gott weinte eine Träne, die der Mann mit seiner Hand auffing.«
»Typisch Raffim!«, kommentierte Seshmosis.
Nostr’tut-Amus blickte ihn vorwurfsvoll an.
»Unterbrecht mich nicht! Denn ich sah Euch, Seshmosis, vor dem Pharao knien, und der erhob eine Streitaxt über Eurem Kopf.«
Seshmosis zuckte zusammen. »Eine Axt? Über meinem Kopf? Hat er zugeschlagen?«
»Nein. Zumindest nicht in meiner Vision. Aber ich habe noch mehr gesehen. Ich sah Euch und Eure Leute bei den Pyramiden. Und einige von Euch sogar in ihnen. Da erschien Osiris auf einer Insel im Wasser in einer Höhle. Und er gab Euch einen Segen und einen Fluch. Ziehen sah ich Eure Karawane durch die östliche Wüste, und ich sah ein goldenes Kalb. Und eine größere Karawane sah ich und einen zornigen Mann, der aus einem brennenden Dornbusch kroch. Mauern sah ich stürzen von Posaunenschall und Männer und Greise und Weiber und Kinder, alle erschlagen auf dem Feld.«
Nostr’tut-Amus rang nach Atem. Die Sache schien ihn anzustrengen. Seshmosis blickte zu GON, doch das Widdergesicht zeigte keine Regung. Zumindest für ihn, aber er musste zugeben, dass er sich bisher noch nie sonderlich für die Mimik von Widdern interessiert hatte. Zur Überraschung des Schreibers ergriff GON das Wort.
»Wie ist das mit der Reihenfolge bei den Visionen? Stimmt die mit der Abfolge der Geschehnisse überein?«
»Manchmal ja, manchmal nein. Der Sud ist ziemlich stark, und oft überschneiden sich die Bilder in meinem Kopf.«
»Habt Ihr noch mehr gesehen?«, wollte Seshmosis wissen.
»Ja, aber es wurde immer wirrer. So viele Schlachten, so viele Tote. Aber Euch sah ich am Meeresstrand.« Er deutete auf Seshmosis.
»Dann hat mich der Pharao doch nicht erschlagen!«, rief er erleichtert aus. »Aber wir sollten auf keinen Fall der anderen Karawane mit dem zornigen Mann begegnen.«
»Ja«, stimmte GON zu. »Ihr müsst ihnen aus dem Weg gehen. Ich danke dir, Nostr’tut-Amus, für deine Visionen. Eigentlich dachte ich, dass es gut wäre, wenn die beiden
Weitere Kostenlose Bücher