Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Hofstaat geben.«
Kalala und Nostr'tut-Amus wetteiferten in sagenhaften Geschichten, die sie über König Minos gehört hatten, wobei der Seher keine Gelegenheit ausließ, seine düsteren, rätselhaften Prophezeiungen einzustreuen. Seshmosis dagegen genoss jeden Bissen des würzigen gebratenen Lamms, das frische, duftende Brot und die süßen Früchte. Zwischen den einzelnen Gängen sah er sich entspannt in dem weitläufigen Speisesaal nach den anderen Gästen um. Außer den Tajarim mochten wohl an die zwanzig Personen anwesend sein, der Raum bot jedoch mindestens dreimal so viel Menschen Platz. An ihrer Sprache erkannte Seshmosis eine Gruppe von Ägyptern und eine weitere aus Babylon. Dazu kamen noch etliche Einzelpersonen, die der Schreiber aber nicht zuordnen konnte. Als seine Reisebegleiter nur noch dem schweren kretischen Wein zusprachen, begab sich Seshmosis auf sein Zimmer. Dort verneigte er sich wie gewohnt vor dem Schrein von GON und murmelte ein kurzes Dankgebet.
Unverhofft erschien der Nomadengott plötzlich auf seinem Schrein und hob sofort an zu sprechen: »Dass ich dir als Katze erscheine, bedeutet nicht, dass alles in Ordnung ist. Ich habe nur keine Lust, mit dir als stierköpfiger, fischschwänziger Falke zu reden. Ich mag keine Chimären, ich bin eher für Klarheit.«
»Es freut mich, dass du noch an mich denkst und dich mir wieder einmal zeigst. Klarheit schätze auch ich. Deshalb bitte ich dich, meine Frage mit Ja oder Nein zu beantworten: Hattest du etwas mit dem Sturm tun?«
Die Katze zögerte, dann erklärte sie: »Ja und nein. Ich sorgte zwar dafür, dass ihr danach schneller nach Kreta kamt, aber ich fürchte, der Sturm selbst war ein Angriff auf mich. Poseidon kann es nämlich nicht leiden, wenn andere Entitäten in sein Reich eindringen. Sogar bei den griechischen Göttern reagiert er überaus empfindlich, wenn sie sich auf sein Meer wagen. Umso zorniger wird er, wenn fremde Götter auftauchen.«
»Ich verstehe. Aber wusstest du das nicht vorher?«, fragte Seshmosis nach.
»Natürlich wusste ich das vorher! Das war ja auch der Grund, warum ich auf dem Olymp mit den anderen Göttern reden wollte. Es ging mir um freies Geleit.«
»Heißt das, dass wir jetzt auf Kreta festsitzen und die Insel höchstens unter Lebensgefahr verlassen können?«, befürchtete Seshmosis.
»Nicht unbedingt. Aber darum geht es im Augenblick gar nicht. Es gibt da noch andere Probleme, die dich persönlich betreffen.«
»Ich hasse Probleme! Ich hätte doch zu Hause bleiben sollen!«
»Jeder muss sich seinen Aufgaben stellen. Du kannst dich nicht einfach verkriechen und das Leben an dir vorbeiziehen lassen. Ich werde dir helfen, vertrau auf mich!«
Obwohl aufs Neue Angst in Seshmosis aufstieg, empfand er GONs letzte Worte als sehr tröstlich. Wieder etwas gefestigt, fragte er: »Was soll ich nun tun?«
»Lass die Dinge auf dich zukommen. Es warten große Aufgaben auf dich. Vieles ist anders, als es scheint. Und verliere nie die Zuversicht!«
Die rot getigerte Katze verschwand und hinterließ einen völlig verwirrten Propheten. Seshmosis nahm das geheimnisvolle Amulett aus der Tasche seines Gewandes und verbarg es in einem unscheinbaren Kleiderbündel. Dann legte er sich müde auf sein Lager und schlief sofort ein.
Der Falke landete vor einer Grotte und verwandelte sich augenblicklich in einen Menschen. Nicht ganz in einen Menschen, denn der Kopf blieb der eines Falken. Der falkenköpfige Sopdu war der ägyptische »Gott der Fremdländer«, quasi der göttliche Außenminister, und er stand vor einer schweren Aufgabe. Er musste mit Zeus verhandeln, der ihn bereits in der Grotte erwartete. Die griechischen Götter waren im Verhältnis zu den ägyptischen wie trotzige Kleinkinder, denn genauso verhielten sie sich nach Sopdus Meinung: launisch und völlig unberechenbar. Für die uralten, abgeklärten bis dekadenten Gottheiten vom Nil war der Olymp nichts anderes als ein göttlicher Kindergarten. Aber auch die griechischen Götter hegten keine besondere Zuneigung für die ägyptischen Götter, die ihnen arrogant und überheblich vorkamen.
Die Begrüßung der beiden verlief dementsprechend kühl und distanziert höflich, der Olympier kam schnell zur Sache. »Wir mögen es ganz und gar nicht, wenn Fremde in unsere Domäne einbrechen! Wir sehen dies grundsätzlich als feindseligen Akt an. Dies hier ist unser Spielfeld!«
»Gemach, gemach, verehrter Kollege! Es ist doch nicht so, dass wir hier auf Kreta einen
Weitere Kostenlose Bücher