Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
fragte Seshmosis: »Weißt du eigentlich, womit Raffim bei dieser Reise handeln will?«
»Soviel ich mitbekommen habe, versucht er es mit erlesenen Schmuckstücken und ausgewählten magischen Objekten. Und Ankersteinen, die Unglück über viele Menschen bringen werden. Steine, an denen jetzt schon Blut klebt, wie ich aus meinen Visionen weiß.«
»Ankersteine?«, wiederholte Seshmosis erstaunt. »Wer bezahlt denn für Ankersteine?«
Nostr'tut-Amus schaute sich nach allen Seiten um, dann senkte er die Stimme und flüsterte verschwörerisch: »Wenn es besondere Ankersteine sind, kann man dafür viel Geld bekommen. Wir haben vier Stück an Bord, alle zentnerschwer und aus feinstem Meteoreisen. Dieses Eisen fällt mit den Meteoren vom Himmel und ist viel härter als Bronze. Ein guter Schmied fertigt daraus die besten Waffen der Welt. Waffen aus Eisen sind die Waffen der Götter! Raffim hat das Eisen mit einer Paste aus zermahlenen Steinen beschmieren lassen, sodass er es unerkannt schmuggeln kann.«
»Aber warum tarnt Raffim das Eisen als Steine?«, fragte Seshmosis irritiert.
»Weil der Zoll für Eisen noch höher ist als für Gold. Ankersteine dagegen sind zollfrei.«
Seshmosis schüttelte ungläubig den Kopf, Raffim hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Plötzlich schoss dem Schreiber ein Gedanke durch den Kopf: Was würde geschehen, wenn man Raffims Schmuggelware entdeckte?
Man würde sie alle zur Verantwortung ziehen und bestrafen! Im Geist sah sich Seshmosis schon in irgendeinem Hafen in Ketten gelegt und in den Kerker geworfen. Um sich von dieser schrecklichen Vorstellung abzulenken, erzählte er Nostr'tut-Amus von Raffims Diebstahl der Heiligen Rollen, der Tajarim. Während sie plauderten, zogen immer mehr dunkle Wolken auf, und es wurde merklich kühler. Ein böiger Wind blies ihnen ins Gesicht und ließ sie frösteln. Seshmosis hüllte sich noch fester in seinen Umhang, als Uartu befahl, dass sich alle außer den Seeleuten unter Deck begeben sollten. Während Seshmosis und Nostr'tut-Amus nach unten stiegen, wurde es plötzlich Nacht. Von einem Augenblick auf den anderen hatte sich der Himmel verfinstert, und ein gewaltiger Sturm brach los. Regen prasselte auf das Schiff, der Wind riss an den Planen der Aufbauten. Gleichzeitig schlugen links und rechts des Schiffs Blitze ins Meer. Schnell wurden die Ruder eingeholt, um sie nicht in den hohen Wellen zu verlieren, die gegen die Schiffswand schlugen. Seshmosis verkroch sich in den Verschlag tief im Heck, in dem er den Schrein von GON verborgen hatte. Fest umklammerte der Schreiber den Schrein und bat den kleinen Gott inständig, er möge ihn und seine Freunde beschützen. Der Nomadengott zog es vor, bei diesem Sturm nicht zu erscheinen.
Laute Rufe drangen von oben in Seshmosis' Versteck, doch im Toben des Sturms konnte er ihre Bedeutung nicht verstehen. Der Schreiber hörte das Krachen von Donner und vermutete, dass die Blitze ganz nah am Schiff ins Meer einschlugen. Dann gab es einen fürchterlichen Knall, und etwas prallte mit einem lauten Schlag auf das Deck. Einige Wortfetzen wie »Poseidon« und »Opfer« konnte Seshmosis in dem Tosen und Brüllen verstehen. Aber wie sollten sie in dieser Not dem Meergott ein Opfer bringen, damit er den Sturm beruhigen möge? Außerdem führten sie doch gar keine Tiere mit sich, die man opfern konnte. Das Schiff knirschte und ächzte so sehr, dass Seshmosis befürchtete, es könne jeden Augenblick auseinanderbrechen. Seine Hände krallten sich fest in den Schrein von GON, seine Fingernägel gruben sich in das Hartholz, doch er fühlte keinen Schmerz. Nach einer qualvoll langen Zeit siegten schließlich Müdigkeit und Erschöpfung über die finsteren Gedanken, und Seshmosis schlief ein.
Erst nach Stunden, als der Tag schon graute, legte sich der Sturm, und Seshmosis und all die anderen Passagiere wagten sich wieder aus ihren Verstecken. Unter Deck stank es fürchterlich nach Erbrochenem, da zu allem Übel auch noch die Seekrankheit über die Mehrzahl der Tajarim gekommen war. Doch nun war die See wieder ruhig, und die Besatzungsmitglieder begutachteten gemeinsam mit den Tajarim die Schäden am Schiff. Der Mast war gebrochen, und seine obere Hälfte hatte an einer Stelle das Deck durchschlagen; schräg ragte der geborstene Stamm über die Reling. Einige Seeleute waren gerade dabei, das nutzlose Stück Holz aus den Planken zu ziehen, um es über Bord zu werfen. Zerberuh besprach sich mit Uartu, dem Steuermann,
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