Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
bemalt. Zu seiner Überraschung entdeckte Seshmosis ein großes, mehrere Meter langes Wasserbecken zur Linken. Ein Schwimmbad in einem Thronsaal fand er doch ziemlich extravagant. Es wurde von einer niedrigen Mauer, an der entlang steinerne Sitzbänke verliefen, vom übrigen Raum abgetrennt. Gegenüber dem Wasserbecken stand ein Thron aus Alabaster mit einer ungewöhnlichen, gewellten Rückenlehne.
Das Geräusch einer sich plötzlich öffnenden Türe holte den Schreiber aus seinen Betrachtungen. Zwei Axtträger betraten den Raum, gefolgt von einem gebeugten alten Mann in einem prächtigen Umhang. Alle Anwesenden knieten ehrfürchtig nieder. Eine junge, überaus attraktive Frau trat zu dem Greis und nahm ihm den Umhang ab. Seshmosis stockte der Atem. Vor ihnen stand Minos, der König von Kreta und Halbgott, ein nackter, hagerer, gebrechlicher Mensch. Müde gab er den Anwesenden das Zeichen, sich zu erheben.
Dann stieg der entblößte Herrscher über Stufen in das Becken hinab, tauchte unter und kehrte vor den Thron zurück.
Die junge Frau trocknete den König ab, hüllte ihn wieder in sein Gewand, und der Minos nahm auf seinem Thron Platz.
Glaukos trat vor seinen Vater, verbeugte sich und sprach: »Verehrter Minos, Gäste aus dem Land über dem Meer entbieten dir ihren Gruß und bitten um eine Audienz. Es sind Kalala, die Prinzessin von Gebel Abjad, die schwarze Perle Nubiens, der Stern der Oase Salima, und ihr Begleiter El Vis, ein Sänger aus Memphis in Ägypten. Des Weiteren der weise Seher Nostr'tut-Amus, Schüler des Thot, und der Gelehrte Seshmosis.«
Seshmosis war überrascht von dieser Vorstellung und fühlte sich geehrt und geschmeichelt, dass man ihn als Gelehrten bezeichnet hatte. Glaukos hatte sich wirklich gut über die Tajarim informiert. Die vier Gäste verneigten sich vor dem König, der sie willkommen hieß.
Dann überreichte Kalala dem Herrscher eine kleine goldene Kassette, die dieser würdevoll und dankend entgegennahm, ohne hineinzusehen.
Der Minos hieß sie mit einer Geste Platz zu nehmen und begann mit einer hohen Altmännerstimme zu sprechen: »Seid willkommen in meinem Reich! Ich freue mich, dass unsere geliebte Insel immer wieder besondere Menschen anzieht und sie unsere Sitten und Gebräuche studieren wollen. So bleibt Kreta auch in Zukunft der Stern, der den Menschen leuchtet. Ich weiß, dass ihr als Fremde diesem Ritual zum ersten Mal beiwohnt. Es findet jeden Morgen statt. Der Minos steigt vor Zeugen unbekleidet ins Wasser dieses Beckens, taucht für eine Weile unter und dann wieder auf. So wie der Herbstgott in die Unterwelt hinabsteigt und nach einiger Zeit als Frühlingsgott wiedergeboren wird. Dieses Ritual ist für mich eine große Verantwortung, denn die Existenz unserer Welt hängt davon ab. Inzwischen ist es aber auch eine große Last für mich. Ich finde, ein Mann meines Alters sollte sich nicht mehr dieser täglichen Mühsal unterziehen müssen.«
»Warum tut Ihr es dann dennoch?«, fragte Kalala, gegen die Etikette verstoßend.
Der König lächelte und antwortete milde: »Weil es die Tradition verlangt, mein Kind. Und weil ich Angst habe, es nicht zu tun. Es heißt nämlich, wenn ich es nicht mehr täte, würde die Sonne nicht mehr aufgehen und die Insel im Meer versinken. Ich habe einfach nicht den Mut auszuprobieren, ob es wirklich so einträte. Was würde geschehen, wenn ich nicht ins Wasser stiege? Würde die Sonne dann für immer entschwinden? Ich möchte nicht am Untergang Kretas oder gar der ganzen Welt schuld sein.«
Seshmosis hatte Verständnis für die Ängste des Alten. Der König war kein Narr, und die Zweifel nagten an ihm mindestens so stark wie die Zeit. Eigentlich glaubte der Minos nicht mehr daran, dass das Bad eines Greises die Fortdauer der Welt gewährleistete, und doch hatte er Angst, mit der Tradition zu brechen. Er kannte sehr wohl die Unberechenbarkeit der Götter.
Während sich Seshmosis noch gedanklich mit dem Ritual beschäftigte, waren die anderen bereits bei einem anderen Thema. Kalala unterbreitete dem König den Vorschlag, El Vis ein Konzert für König und Hofstaat geben zu lassen. Minos beriet sich kurz mit seinem Sohn Glaukos und der hübschen jungen Frau, dann stimmte er zu. Schon am morgigen Abend sollte das Ereignis stattfinden. Zwar hatte der König noch nie von El Vis und seiner Musik gehört, doch die Schönheit Kalalas war für ihn Argument genug.
»Meine Tochter Ariadne wird euch das Theater zeigen und euch bei den
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