Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
neuen Kult errichten wollen. Es geht lediglich darum, einer kleinen, noch nicht einmal richtig erwachten Gottheit Asyl vor Verfolgung zu gewähren«, beschwichtigte Sopdu den griechischen Chefgott.
»Asyl für eine kleine Gottheit?«, fragte Zeus. »Das erinnert mich an meine eigene Kindheit auf Kreta. Meine Mutter Rhea verbarg mich hier in der Idäischen Grotte vor meinem Vater Kronos, der mich verschlingen wollte. Dieser Ort hier ist sozusagen meine Kinderstube.«
Wehmütig blickte er um sich. »Hier war es, wo mich die Ziege Almathea mit ihrer Milch nährte, die wohltätige Hirten mit stärkendem Bienenhonig süßten. Man erzählte mir, dass draußen fortwährend Priesterkrieger mit ihren Schwertern auf ihre Schilder trommelten, um mein Geschrei zu übertönen, auf dass mein Vater mich nicht hören konnte. O selige Kindheit!«
»Dann habt Ihr sicher Verständnis für unsere Notlage. Dem Goldenen Kalb ergeht es jetzt ähnlich. Das arme Wesen wird verfolgt und bedroht. Wir bitten Euch deshalb, ihm hier Asyl zu gewähren.«
»Und wer garantiert, dass es nicht dereinst auch zur obersten Gottheit aufsteigen will, so wie ich es getan habe, und versuchen wird, die Herrschaft über unseren Olymp zu erlangen?«
»Es wird stets eine mindere Gottheit bleiben. Die Zeit der Stiergottheiten ist vorbei. Selbst hier auf Kreta gehören sie doch nur noch zur Folklore.«
Zeus ging nachdenklich in der Grotte auf und ab. Nach einer Weile blieb er stehen und wandte sich wieder an Sopdu: »Gut, das Kalb kann bleiben. Doch wie steht es mit dem anderen fremden Gott, der auf Kreta weilt? Er stammt doch auch aus Ägypten.«
Sopdu war erleichtert. Das Goldene Kalb war in Sicherheit. Leidenschaftslos sagte er: »Mit dieser Gottheit haben wir nichts zu schaffen. Keiner von uns weiß, woher sie kommt und was sie will. Sie entstand vor unendlich langer Zeit, und wir wussten bis vor kurzem gar nicht, dass es sie gibt. Außerdem erscheint sie uns zu unbedeutend, um sich Gedanken über sie zu machen.«
»Ich mag keine fremden Götter in meiner Nähe«, polterte Zeus. »Er muss sich mir unterwerfen, oder ich werde ihn vernichten!«
»Das ist Eure Sache, edler Zeus. Wie gesagt, wir ägyptischen Götter interessieren uns nur für die Sicherheit des Goldenen Kalbes, Sohn von Apis und Methyer.«
»Gut, dann ist die Angelegenheit zwischen uns geklärt. Mögen die Gläubigen mit Euch sein!«
Noch bevor Sopdu den Gruß erwidern konnte, war der Gebieter des Olymps verschwunden.
Ziemlich unhöflich, dieser achäische Gott, dachte sich Sopdu, verwandelte sich wieder in einen Falken und flog Richtung Süden.
*
Beim Frühstück gab Nostr'tut-Amus eine weitere sagenhafte Geschichte von König Minos zum Besten, aber er wäre nicht er gewesen, hätte er es versäumt, dabei dunkel raunende Andeutungen über dessen baldiges Ende einzuflechten. Jede seiner Anekdoten schloss er mit der Bemerkung: »Seht, auch Könige finden ihr Ende, wenngleich ihr Schicksal in einem anderen Buch steht als das unsere!«
Dann betrat ein halbes Dutzend Krieger den Speisesaal. Sie trugen langstielige Doppeläxte und postierten sich neben der großen Tür, wo sie regungslos verharrten. Als der letzte Tajarim die Mahlzeit beendet hatte, kam einer der Krieger zu ihrem Tisch und forderte Kalala, El Vis, Nostr'tut-Amus und Seshmosis auf, ihm zu folgen.
Die Eskorte führte die Tajarim über den großen zentralen Innenhof zu einem beeindruckenden zweigeschossigen Bau, dessen Fassade von zwei übereinanderstehenden Säulenreihen gestützt wurde. Über eine breite Treppe erreichten sie einen Raum, dessen Wände von Steinbänken gesäumt waren. Dort bat man sie zu warten.
Bald darauf erschien ein Mann von etwa dreißig Jahren. Er trug ein einfaches, mit einer Goldborte gesäumtes Gewand und ein rotes Stirnband.
»Seid gegrüßt! Ich bin Glaukos, Sohn des Minos«, stellte er sich vor. »Bevor das Ritual mit anschließender Audienz beginnt, erkläre ich euch noch einige Regeln, die ihr unbedingt beachten müsst. Wenn der König den Raum betritt, beugt ihr das rechte Knie. Sobald der König sich von seinem Thron erhebt, müsst auch ihr euch erheben. Sprecht nur, wenn euch der König dazu auffordert! Soweit die Etikette des Rituals. Folgt mir nun in den Thronsaal!«
In dem Raum standen bereits einige Kreter, anscheinend Angehörige des Hofstaats. Seshmosis sah sich neugierig im Thronsaal um. Die Wände waren mit exotischen Greifen und Pflanzen auf dunkelrotem Grund prächtig
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