Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
und zurückhaltender Mann, der niemandem etwas zu Leide tun würde!«, verteidigte Kalala ihren Freund.
»Was sollte er außerdem als Fremder mit unserem heiligen Amulett anfangen können?«, fragte Glaukos die Brüder.
»Er könnte zum Beispiel für jemanden arbeiten, der gern auf dem Thron sitzen würde. Nicht wahr, Deukalion?«, unterstellte Nelos. Deukalion stieg die Zornesröte ins Gesicht. Er schrie die Söhne des Telos an: »Ihr Elendigen! Ich weiß genau, dass ihr Freunde unseres Bruders Katreus seid. Keiner sehnt sich mehr nach dem Thron als er. Wo ist er überhaupt?«
»Haltet ein!«, befahl Glaukos. »Diese Angelegenheit bedarf der Klärung. Nelos und Pelos, ihr steht unter Hausarrest und dürft eure Gemächer nicht verlassen. Wachen!«
Ein Trupp Wächter mit langstieligen Doppeläxten betrat augenblicklich den Raum.
»Bringt die beiden in ihre Unterkunft, entwaffnet sie und sorgt dafür, dass sie in ihrem Quartier bleiben. Postiert vier Wachen vor ihrer Tür! Jeder Fluchtversuch gilt als Schuldeingeständnis.«
Nachdem Nelos und Pelos abgeführt waren, wandte sich Glaukos wieder an die Tajarim. »Für euch spricht, dass ihr mir gleich vom Verschwinden eures Freundes Seshmosis berichtet habt. Selbst wenn er mit der Sache zu tun haben sollte, glaube ich jedoch an eure Unschuld. Ihr dürft euch weiterhin frei im Palast bewegen, ich bitte euch aber, diesen nicht zu verlassen. Und unternehmt nichts auf eigene Faust!«
*
Inzwischen war es Nacht geworden. Aber der Unterschied zum Tag war für die Bewohner des Labyrinths nicht zu bemerken, außer in dem kleinen, oberen Bereich mit seinen hohen Mauern, der unter freiem Himmel lag. Doch das Gemach von Asterion lag fern vom Blick auf die Sterne, verborgen im großen, unterirdischen Trakt. Eine einzige Fackel warf spärliches Licht auf den Halbgott und seinen Gast Aram.
Die Wände hier waren, im Gegensatz zum übrigen Labyrinth, bemalt. Sie zeigten junge Menschen, die über Stiere turnten. Asterion saß auf einem thronähnlichen Stuhl, dessen Lehne eine große Kopfstütze für seinen riesigen Schädel besaß. Zahlreiche Truhen deuteten darauf hin, dass der Mischling aus Mensch und Stier über etliche Besitztümer verfügte.
Aram saß neben Asterion, den Schrein auf seinen Oberschenkeln. Auf einmal kam aus dem Schrein eine Stimme: »Öffne mich!«
Asterion sah Aram verwundert an. »Was hast du denn da in deinem Kasten? Hältst du darin vielleicht einen Satyr gefangen?«
»Nein, er sagt, er sei ein Freund von Seshmosis.«
Erregt öffnete Aram den Schrein. Sein Inneres war von Licht erfüllt, und im Licht schwebte ein Amulett.
»Aram, gib dieses Amulett Asterion! Er soll sein Bewahrer sein«, befahl die körperlose Stimme.
Asterion betrachtete ehrfürchtig das Amulett. »Es ist das Heilige Amulett von Phaistos. Es taucht immer nur dann auf, wenn ein neuer Minos bestimmt werden muss. Dieses Amulett entscheidet, wer König von Kreta wird.«
»Heißt das, dass du jetzt König von Kreta wirst?«, fragte Aram verwundert.
»Nein. Du hast doch die Stimme gehört. Ich soll das Amulett nur aufbewahren, um es zu gegebener Zeit dem richtigen Thronfolger zu überreichen.«
»Und woher weißt du, wer der Richtige ist?«
»Ich denke, der göttliche Teil in mir, der Teil, der von meinem Stiervater stammt, wird es mir verraten. Doch nun, lieber Aram, erzähle mir doch bitte von den Freuden eines Badehauses!«
*
Seshmosis erwachte erholt aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Schon sein Vater hatte immer gesagt: »Erschöpfung ist ein gutes Sandmännchen.« Und die ägyptischen Sandmännchen waren wirklich Experten, bot doch die Wüste einen idealen Arbeitsplatz für sie.
Eine Gruppe von Rennern brachte Seshmosis schnell wieder in die Realität des Labyrinths zurück. Haarscharf trampelten ihre stampfenden Füße an ihm vorbei, als sie wie ein Sturmwind den Raum durchquerten. Verdrossen kaute Seshmosis auf einem Stück Dörrfisch, als Daedalos gut gelaunt zu ihm sagte: »Heute ist der wöchentliche Gabentag, wir sollten uns gleich einen guten Platz sichern.«
Auf dem Weg durchs Labyrinth erklärte Daedalos, was es mit dem Gabentag auf sich hatte: »Einmal in der Woche dürfen die Menschen von einer Terrasse aus etwas ins Labyrinth werfen. Es ist die Stelle, von der aus man die ganze Schönheit meines Bauwerks erkennen kann«, erklärte der Architekt stolz. »Angehörige und Freunde nutzen die Gelegenheit, den Gefangenen die verschiedensten Dinge
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