Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Ariadne.
»Dein Halbbruder! Er ist ein Bastard, das Produkt eines ruchlosen Ehebruchs. Der Minos wird mir dankbar sein, wenn ich diese Schande endlich tilge, und mir umso lieber deine Hand geben.«
»Ich mag ihn aber!«, rief die Prinzessin trotzig.
»Wie oft hast du ihn überhaupt schon gesehen? Du kennst ihn doch kaum. Du weißt überhaupt nicht, was er im Labyrinth treibt. Warum ist denn noch nie einer von dort zurückgekehrt? Ich sage es dir: weil keiner mehr in der Lage ist zurückzukehren! Alles, was dort noch existiert, sind ein paar jämmerliche Gestalten, die am Gabentag um Almosen betteln.«
»Und was ist, wenn Asterion dich besiegt?«, fragte Ariadne verunsichert.
Theseus triumphierte innerlich, er wusste, dass er gewonnen hatte. »Er wird mich nicht besiegen, wenn du mir hilfst, liebe Ariadne! Ich brauche aber noch Nelos und Pelos als Verstärkung. Das Schwierigste wird jedoch der Weg zurück. Ich weiß nicht, wie ich ihn finden soll.«
»Da habe ich eine gute Idee. Du musst ein Wollknäuel mitnehmen. Den Faden bindest du am Eingang fest und wickelst ihn ab. Beim Weg aus dem Labyrinth musst du dann nur noch den Faden zurückverfolgen, und du bist schnell wieder am Eingang.«
»Genial! Aber wie befreien wir Nelos und Pelos? Sie stehen unter Hausarrest, und ihre Tür wird von vier Bewaffneten bewacht.«
»Ein Schlummertrunk für die Wächter zur rechten Zeit ist die Freude jedes Gefangenen«, antwortete Ariadne verschmitzt. Sie konnte ihrem geliebten Theseus wirklich nichts abschlagen.
»Sehr gut! Du bringst den Axtträgern den Trunk und lässt dann meine Freunde heraus. Sag ihnen, sie sollen mich beim Tor zum Labyrinth treffen!«
*
Aram berichtete Asterion wehmütig über sein Leben mit dem Goldenen Kalb und seiner Begegnung mit dem lebenslustigen Gott Pan. Und als er von seiner Sehnsucht nach dem Kalb, der Weide und der Hütte erzählte, rann ihm eine Träne über die Wange.
»Ich hoffe, am Berg ist alles in Ordnung. Ich müsste eigentlich schon längst zurück sein.«
Asterion wollte Aram gerade trösten, als Pan plötzlich auftauchte. Ein sehr kleiner Pan allerdings, noch kleiner als sonst. Verwundert blickten die beiden auf die Erscheinung.
»Sorge dich nicht, Aram! Dem Goldenen Kalb geht es gut.«
»Pan? Bist du es?«, fragte der Hirte ungläubig.
»Nein, ich bin nicht Pan. Aber ich bin ein guter Freund von ihm. Du kannst ganz beruhigt sein.«
»Du bist die Stimme, nicht wahr?«, vermutete Asterion.
»Ja. Die Stimme ist auch ein guter Name für mich. Seshmosis nennt mich GON – Gott ohne Namen. Kein lebendes menschliches Wesen außer Seshmosis kann mich sehen.«
Asterion strich sich mit der Hand nachdenklich über seine großen Stierhörner. Das tat er immer, wenn er unsicher war.
»Mir scheint, hier passieren ungewöhnliche Dinge«, sagte er leise. »Alles ist anders als sonst. Ich spüre, dass sich etwas Großes, etwas Bedeutendes anbahnt. Mein Inneres vibriert. Ich fühle, dass es auch um mein Schicksal geht.«
»Womit du absolut Recht hast, Asterion. Es geht um alles – um dich, um Kreta, um die Menschen und um die Götter. Es geht sogar um mich«, sagte die Miniaturausgabe von Pan und verschwand.
*
Poseidon zürnte. Nun, das war bei ihm der Normalzustand, aber jetzt zürnte er besonders heftig. Wütend stieß er seinen Dreizack ins Wasser, wo er knapp einen Delfin verfehlte, der erschrocken das Weite suchte. Von den Spitzen des Dreizacks machte sich ein kleiner Tsunami auf den Weg zu den Säulen des Herakles, der Meerenge von Gibraltar, und jagte eine ängstliche Affenfamilie in höhere Regionen.
»Ich lasse mir diese Vaterschaft nicht anhängen! Jedes Mal, wenn eine achäische Frau einen Bastard gebiert, ist er angeblich der Sohn eines Gottes. Die Könige von Sparta über Mykene bis Athen haben inzwischen mehr Halbgötter in ihren Familien als normale Kinder.«
»Es ist eben ehrenvoller, von einem Gott geschwängert zu werden, als von einem gewöhnlichen Liebhaber. So wird aus der vermeintlichen Schande ganz schnell eine große Ehre für die Familie«, versuchte Dionysos zu erklären.
»Ich bin aber nicht der Vater des Theseus. Wer auch immer Aithra beschlief, ich war es nicht! Soll König Ägeus doch besser auf seine Frauen aufpassen!«
»Aber die Vaterschaft von Asterion kannst du wohl nicht leugnen!«, warf Zeus ein.
»Das will ich auch gar nicht. Asterion sieht man wenigstens an, dass er ein Halbgott ist.«
Erneut stieß Poseidon seinen Dreizack
Weitere Kostenlose Bücher